Mission Migra­tion: Das huma­ni­täre Desaster an euro­päi­schen Außen­grenzen

Datum
14. September 2023
Autor*in
Linda Reichel
Thema
#Politik
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Die Flücht­lings­krise ist euro­pa­weit eines der zentralen poli­ti­schen Themen. Die EU entwirft mit ihrer derzei­tigen Politik jedoch keine nach­hal­tigen Lösungs­an­sätze, sondern gestaltet eine huma­ni­täre und struk­tu­relle Kata­strophe im Mittel­meer­raum.

09.08.202341 Personen ertrinken im Rahmen ihrer Mittel­meer­über­que­rung nach Europa. Es ist nicht die erste Hiobs­bot­schaft des Jahres, welche von tödli­chen Über­sied­lungs­ak­tionen im Mittel­meer­raum berichtet. Bereits im Februar und Juni verun­glückten mehrere hundert Menschen auf einer der Migra­ti­ons­routen nach Europa tödlich. Ein Leta­li­täts­trend, der durch die Vorjah­res­er­fah­rungen bestä­tigt wird. So verstarben im Jahr 2022 insge­samt 2.439 Flücht­linge auf der erwähnten Mittel­meer­route.

Immerhin, faz, BR24 und ZEIT Online titeln. Doch Aufar­bei­tung oder gar Inves­ti­gativ Recherche bezüg­lich ursäch­li­cher Hinter­gründe erfolgen keine. In der Tages­schau, der reich­wei­ten­stärksten Nach­rich­ten­sen­dung Deutsch­lands, reicht das Ausmaß der Tragödie gera­demal für eine Rand­notiz – statt­dessen erntet die EU ein Schul­ter­klopfen für ihre gelun­genen Gasein­spar­maß­nahmen des vergan­genen Jahres. Weniger glor­reich zwar, doch ähnlich erfolg­reich für die größte Frie­dens­ver­ei­ni­gung ist die Bilanz in Bezug auf das Krisen­ma­nage­ment im Rahmen der soge­nannten Flücht­lings­krise“ – in puncto Flücht­lings­ein­spar­maß­nahmen“ verzeichnet die EU starke Quoten.

Statt nach­hal­tige Lösungs­an­sätze zu entwerfen, gestaltet die EU eine huma­ni­täre und struk­tu­relle Kata­strophe im Mittel­meer­raum. Und die Flücht­lings­krise“ verfügt über eine weit zurück­rei­chende Chronik. Die Migra­ti­ons­be­we­gung beschreibt in den vergan­genen Jahren zuneh­mend einen aufwärts­stre­benden Trend. Hände­rin­gend sucht die EU noch immer nach Lösungen, während des Mantra der Alt-Kanz­lerin Merkels im Vakuum ziel­ori­en­tierter Lösungs­an­sätze verklingt. (Ein Echo ehema­liger Huma­nität?) Wir schaffen das“, sagt Merkel 2015. Ihre viel­fach zitierten Worte wurden zum Symbol­bild für das Credo Refu­gees Welcome“. Ein Gebot längst vergan­gener Stunde und bei Weitem nicht euro­päi­scher Konsens.

Der offi­zi­elle Rahmen: Konzepte, Verträge, Rechte

Frieden, Sicher­heit, Menschen­rechte. Das Werte­kor­sett der Euro­päi­schen Union gibt die Prin­zi­pien und Leit­li­nien einer huma­nis­tisch orien­tierten Außen­po­litik durch diesen Komplex zumin­dest in groben Umrissen vor. Doch die ethi­schen Maßstäbe, welche die Kern­pfeiler inter­na­tio­naler Politik defi­nieren, werden zuneh­mend aufge­weicht. An ihren Außen­grenzen deli­giert die Euro­päi­sche Union diverse Kompe­tenzen an Dritt­länder und negiert somit ihre eigene Auto­rität. Der im Juli dieses Jahres unter­zeich­nete Vertrag mit Tune­sien beschreibt eindrück­lich diese Wirk- und Handels­muster Europas.

Das Migra­ti­ons­ab­kommen sichert Tune­sien weit­rei­chende Finan­zie­rungs­hilfen als Vergü­tung für Such- und Rettungs­ak­tionen“ von Migranten. Als Ziel des Vertrags gilt die Verrin­ge­rung des Migran­ten­zu­stroms über das Mittel­meer. Die vertrag­liche Dele­ga­tion des Aufga­ben­kom­plexes birgt jedoch viele Risiken. Durch das Entfallen euro­päi­scher Kontroll­mög­lich­keiten kann der humane Umgang mit Migranten nicht nach­haltig sicher­ge­stellt werden. Die Ausla­ge­rung der Konflikt­si­tua­tion schafft zudem neue Probleme in Dritt­staaten. Aufgrund des explo­siven Klimas zwischen Einhei­mi­schen und Migranten ist die Bezie­hung entspre­chend fragil, Eska­la­tionen sind nicht ausge­schlossen.

Nach wie vor fehlen lang­fris­tige Lösungs­an­sätze und ange­sichts der prekären wirt­schaft­li­chen Lage Tune­siens fällt es schwer, selbst eine Akut­lö­sung für das Problem zu finden. Inter­na­tio­nale Zusam­men­ar­beit ist im Rahmen des länger­fris­tigen Krisen­ma­nage­ments essen­ziell. Der Vertrag stellt jedoch ledig­lich eine margi­nale Stell­schraube in einem nach­hal­tigen Konzept zur Migra­ti­ons­re­gu­lie­rung dar.

Die unter­schwel­lige Agenda: problem­be­haf­tete EU-Poli­tiken

Das euro­päi­sche Asyl­gebot selbst bewegt zahl­reiche Menschen zur Migra­tion. In der Hoff­nung auf ein poten­ziell besseres Leben in Europa wagen Menschen aus wirt­schaft­lich schwä­cheren Staaten die risi­ko­reiche Über­sied­lung – perspek­tivlos. Als soge­nannte Wirt­schafts­mi­granten“ verfügen sie nicht über das Recht auf Inan­spruch­nahme von poli­ti­schem Asyl und werden konse­quen­ter­weise abge­lehnt. In diesem Kontext muss zwischen soge­nannten Wirt­schafts­mi­granten und Schutz­be­dürf­tigen unter­schieden werden. Wobei letz­teren als indi­vi­duell oder kollektiv verfolgten Personen per Genfer Flücht­lings­kon­ven­tion Asyl gewährt wird, gilt dies nicht für Migranten, die zwar aus struk­tur­schwa­chen, aber nicht aus Verfol­ger­staaten stammen.

Migra­tion aus ökono­mi­schen Gründen ist demnach ein perspek­tiv­loses Unter­fangen. Trotzdem belegen Statis­tiken in den vergan­genen Jahren einen mehr­heit­lich posi­tiven Trend in Bezug auf die Zahl der Geflüch­teten und Asyl­an­trag­steller in der EU. Aufgrund der Erman­ge­lung sicherer Anrei­se­wege, sind Flüch­tende jedoch auf soge­nannte Schleu­ser­netz­werke ange­wiesen, welche die Risi­ko­fak­toren der Über­sied­lung maßgeb­lich poten­zieren. Zahlen von Todes­op­fern und Schiff­brü­chig­keit betonen die Preka­rität der Situa­tion.

So verbüßen tausende Migranten den fehlenden Kurs der Euro­päi­schen Union mit dem Tod. Ob Struk­tur­lo­sig­keit oder poli­ti­sches Kalkül, diverse Instru­men­ta­rien behin­dern den Transit von Migranten über das Mittel­meer. Um nur ein Beispiele zu nennen: Es werden keine staat­li­chen Instanzen für die Seenot­ret­tung instal­liert, die Bergung von Schiff­brü­chigen obliegt ausschließ­lich zivilen Rettungs­or­ga­ni­sa­tionen. Die privaten Einsatz­kräfte werden in ihrer Tätig­keit maßgeb­lich durch diverse büro­kra­ti­sche Hürden einge­schränkt. Die zivile Seenot­ret­tung ist gezwungen, bestimmte, zumeist weit abge­le­gene Häfen anzu­steuern, was ihre aktive Einsatz­zeit aufgrund des langen Fahrt­auf­wandes erheb­lich redu­ziert.

Die Konse­quenz von Rettungs­va­kuum und Krimi­na­li­sie­rung – das Mittel­meer verkommt zur Todes­zone. Doch die Krimi­na­li­sie­rung von Migra­tion stellt bereits in sich ein massives Problem dar. Die Nutzung ille­galer Flucht­routen“ führt konse­quen­ter­weise zu einem Tatbe­stand auf euro­päi­schem Boden, sodass viele Geflüch­tete nach ihrer Ankunft in Europa in admi­nis­tra­tiver Inhaf­tie­rung fest­ge­halten werden. Außerdem machen sich zivile Rettungs­kräfte der Beihilfe zur ille­galen Einreise schuldig, sodass gegen diverse Besat­zungs­mit­glieder Straf­pro­zesse einge­leitet werden.

Mission Migra­tion: geschei­tert

Durch die Instru­men­ta­li­sie­rung jener büro­kra­ti­schen Hemm­nisse billigt die Euro­päi­sche Union den Tod zahl­rei­cher Migranten. Doch es bleibt nicht bei passiver Tole­ranz, auf diversen Ebenen wird sich aktiv gegen Migra­ti­ons­ströme enga­giert. Exem­pla­risch steht die euro­päi­sche Grenz­schutz­agentur Frontex“, welche mit einem EU-Budget in Höhe von 544 Millionen Euro gespeist wird, in scharfer Kritik aufgrund der Durch­füh­rung von gewalt­samen Push­back-Maßnahmen, dem aktiven Zurück­drängen von Flüch­tenden. Darüber hinaus erhärtet sich die Beweis­lage, welche ein ausblei­bendes Rettungs­en­ga­ge­ment in Fällen von Seenot impli­ziert, wie beispiels­weise im Zuge der Flücht­lings­ka­ta­strophe vom 14. Juni dieses Jahres. Die grie­chi­sche Küsten­wache verzö­gerte die Einlei­tung von ernst­haften Rettungs­maß­nahmen trotz bestehender Infor­ma­ti­ons­lage über die Situa­tion der Migranten. Ein bekanntes Hand­lungs­schema; so wurde Grie­chen­land bereits im Vorjahr aufgrund ihres brutalen Vorge­hens gegen Flücht­linge vom Euro­päi­schen Gerichtshof für Menschen­rechte verur­teilt.

Die Menschen­rechte sind das Kern­stück des euro­päi­schen Rechts­ver­ständnis. Jedem Menschen steht das Recht auf Unver­sehrt­heit zu. Die Billi­gung vieler Hundert bis Tausend Todes­fälle durch verzö­gerte bis ausblei­bende Rettungs­maß­nahmen ist ein Verbre­chen, welches unter keinen Umständen geduldet werden darf. Unab­hängig von der Frage, inwie­fern Migra­tion zukünftig gestaltet und gesteuert werden soll, muss initial die Unver­sehrt­heit der Migranten gesi­chert werden. Länger­fristig bedarf das Asyl­system der Euro­päi­schen Union einen grund­le­genden Wechsel, welcher sowohl real­po­li­tisch auf die gege­benen Umstände reagiert, als auch den euro­päi­schen Werte­kom­plex berück­sich­tigt. Andern­falls ist das mora­li­sche Funda­ment der EU, und damit sie selbst, eine Farce.


Dieser Artikel ist im Rahmen der offenen Redak­tion entstanden. Bei Fragen, Anre­gungen und Inter­esse könnt ihr uns gern eine Mail schreiben: redaktion@​jugendpresse.​de


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