Heimat zwischen Kabul und Hamburg

Datum
01. Mai 2016
Autor*in
Annika Schulze
Thema
#JMWS16
Hamburg, Foto: "Sophia Sehnem" / www.jugendfotos.de, CC-Lizenz(by-nc)

Hamburg, Foto: "Sophia Sehnem" / www.jugendfotos.de, CC-Lizenz(by-nc)

Foto: "Sophia Sehnem" / www.jugendfotos.de, CC-Lizenz(by-nc)

Ein Moment, zwei Leben: Annika Schulze beschreibt in der Geschichte von Anna und Amar, wie ähnlich und doch komplett unter­schied­lich der Alltag zweier Menschen sein kann.

7 Uhr, Hamburg, Deutsch­land. Pünkt­lich reißt der Wecker Anna aus dem Schlaf. Es vergehen ein paar Minuten, bis sie aufsteht. Dann zieht sie sich an, schminkt sich, isst Früh­stück, packt noch schnell ihre Schul­sa­chen und verab­schiedet sich flüchtig von ihren Eltern.

8 Uhr, Kabul, Afgha­ni­stan. Auch Amar wird wie jeden Morgen von seinem Wecker aus dem Schlaf gerissen, auch für ihn ist es ein ganz normaler Morgen. Der einzige Unter­schied zu Annas Morgen ist, dass er in stän­diger Angst wegen des Krieges leben muss. Er über­legt schon lange, sich wie viele andere auf die Suche nach einer besseren Zukunft zu machen. Doch Kabul ist seine Heimat, er hat einen guten Job und seine Freunde und Verwandten leben hier. So leicht kann er sich nicht von all dem trennen. Seine jüngste Tochter kommt herun­ter­ge­laufen, er hebt sie hoch und küsst sie auf die Wange. Amar entscheidet sich in dieser Sekunde, heute nicht zur Arbeit zu gehen. Es ist ein ungutes Bauch­ge­fühl, die Tatsache, dass es ihm nicht beson­ders gut geht und der Wunsch, mal wieder einen Tag mit seiner Frau zu verbringen.

Für Anna ist es ein schönes, vertrautes Gefühl, nach Hause zu kommen

Anna kann es kaum abwarten, dass die Schul­klingel endlich läutet. Sie eilt nach Hause, macht sich etwas zu Essen warm, guckt sich ihre Haus­auf­gaben an und um 5 Uhr fährt sie zum Trai­ning. Es ist ein ereig­nis­loser Tag. Als sie an diesem Abend nach Hause kommt, öffnet ihr Vater die Tür. Sie umarmen sich und es ist ein schönes, vertrautes Gefühl, wenn auch etwas unge­wohnt, denn seit Anna etwas älter ist, streitet sie sich oft mit ihren Eltern. Sie ahnt nicht, wie glück­lich sie sich schätzen kann, ihren Vater heute Abend in die Arme schließen zu können.

Amar fasst den Entschluss, seine Heimat zu verlassen

Nach­mit­tags, während des Mittag­essens, klin­gelt Amars Handy. Er steht auf und nimmt den Anruf in der Küche an. Am anderen Ende der Leitung rauscht es unver­ständ­lich. Es braucht eine kurze Zeit, bis Amar den Mann versteht. Es vergehen weitere Sekunden, bis er die Bedeu­tung seiner Worte tatsäch­lich versteht. Es trifft ihn wie einen Schlag ins Gesicht. Das Einzige, was er im nächsten Moment hört, ist das laute Klopfen seines Herzens und sein unre­gel­mä­ßiger Atem. Langsam geht er zurück ins Esszimmer. Er blickt auf seine Familie, seine beiden Töchter. Er hört nicht, was sie sagen, es fühlt sich an, als wäre er unter Wasser. Er hätte heute sterben können, doch er und seine Familie haben eine weitere Chance bekommen. An seinem Arbeits­platz wurde heute ein Anschlag verübt. Viele seiner Arbeits­kol­legen sind gestorben, andere schwer verletzt. Wäre er heute zur Arbeit gegangen, so wie jeden sons­tigen Tag auch, wäre er mit Sicher­heit gestorben. Seine Frau nimmt ihn in die Arme, hält ihn fest. Mit dem Blick auf seine Kinder, seine Frau im Arm, trifft er eine Entschei­dung, die sein ganzes Leben verän­dern wird. Er fasst den Entschluss, sein Heimat­land zu verlassen und sich auf den Weg in eine besser Zukunft zu machen, um seiner Familie Sicher­heit garan­tieren können. Er weiß, dass es ein großes Risiko ist, das er eingeht. Doch er nimmt dieses Risiko auf sich.


Empfohlene Beiträge

Artikel

Plat­ten­bau­be­wohner 2.0

Juliane Kraus und Annika

Artikel

Die Angst vor dem Wolf im Schafs­pelz

Carolina Pfau

Artikel

Deutsch­land hat mich verän­dert“

Ann-Christin Rinker