Manche werden irgend­wann hier in Deutsch­land heimisch werden“

Datum
30. Juli 2016
Autor*in
Stefanie Huschle
Thema
#JMWS16
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Er war der erste Poli­tiker, der gesagt hat, der Islam gehöre zu Deutsch­land. Wie sieht er diesen Satz heute? Stefanie Huschle, Teil­neh­merin des Jugend­me­di­en­work­shops 2016, hat den deut­schen Finanz­mi­nister Wolf­gang Schäuble (CDU) inter­viewt und mit ihm über die Türkei und die aktu­elle Situa­tion von Geflüch­teten gespro­chen.

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Stefanie Huschle im Gespräch mit Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble. Foto: Stephanie Beutler.

Was bedeutet Heimat für Sie?

Für mich ist Heimat zum einen der Ort, an dem ich aufge­wachsen bin – obwohl ich da gar nicht mehr oft hinkomme, denn meine Eltern und meine Brüder sind tot. Aber da empfinde ich die Erin­ne­rung an meine Kind­heit. Und natür­lich ist Heimat auch dort, wo die eigenen Kinder groß geworden sind und wo man lebt. Zwar bin ich momentan mehr in Berlin als in Offen­burg, aber Heimat ist und bleibt die Ortenau. Wenn der SC Frei­burg aufsteigt, ist das für mich wich­tiger, als wenn Union Berlin aufsteigt.

Sie haben vor 10 Jahren als erster Poli­tiker in Deutsch­land gesagt der Islam ist ein Teil von Deutsch­land. Erin­nern Sie sich?

Ja, sehr gut sogar!

Wie stehen Sie dazu heute?

Naja, das ist unbe­streitbar wahr, nicht? Dass der Islam ein Teil von Deutsch­land ist, war schon 2006 offen­sicht­lich. Deswegen habe ich damals gesagt: Die Menschen aus dem isla­mi­schen Kultur­kreis machen einen erheb­li­chen Teil unserer Bevöl­ke­rung aus. Darauf müssen wir uns einstellen. Wir müssen den Muslimen sagen, wenn ihr in Deutsch­land lebt, müsst ihr auch die deut­sche Ordnung kennen­lernen und hier heimisch werden. Und umge­kehrt müssen wir dazu stehen, dass die Muslime zu uns gehören. Damals habe ich die Islam­kon­fe­renz gegründet. Inzwi­schen gibt es Ausbil­dungen in isla­mi­scher Theo­logie an deut­schen Univer­si­täten. Dieje­nigen, die behaupten, der Islam gehört nicht zu Deutsch­land, haben genauso wenig Recht, wie dieje­nigen, die jetzt aus der Türkei eine isla­mi­sche Rechts­ord­nung machen wollen.

Wo begegnet Ihnen der Islam im Alltag?

Viele Muslime sind mir gegen­über sehr freund­lich. Sie wissen, dass ich mich früh für sie einge­setzt habe und dass ich dafür eintrete, dass sie und vor allem ihre Kinder die deut­sche Sprache lernen. Es ist eine Berei­che­rung für uns, wenn Menschen aus anderen Ländern nach Deutsch­land kommen und uns neue Dinge bringen. Schauen Sie nur in die Nach­kriegs­jahr­zehnte: Wenn wir keine Italiener hätten, wenn wir weder Pizza noch Spaghetti kennen würden, das wäre doch furchtbar. Die neuen Migranten berei­chern uns auch.

Anfang des Jahres meinten Sie, die Rück­kehr der syri­schen Flücht­linge sollte der Normal­fall sein. Soll Deutsch­land für die Geflüch­teten keine neue Heimat werden?

In Syrien ist Krieg, in Afrika gibt es Dürre­pe­ri­oden, wir werden einen Klima­wandel erleben. Nicht alle Menschen auf der Welt, die fliehen müssen, werden nach Deutsch­land oder Europa kommen können. Der Staat kann nicht barm­herzig sein, er muss gerecht sein, das ist ein Unter­schied. Wir werden mehr Menschen aufnehmen und diese Menschen auch gut behan­deln. Doch wir müssen Hilfs­be­reit­schaft und die Aufrecht­erhal­tung der Ordnung mitein­ander verein­baren.

Soll nun Deutsch­land für die Flücht­linge zur Heimat werden?

Für die Menschen, die dauer­haft hier­bleiben können: ja. Denen, die nicht dauer­haft hier­bleiben können, wollen wir helfen – auch dabei, dass sie möglichst schnell wieder in ihre Heimat zurück­kehren können.

Also: Die Heimat bleibt Syrien?

Ja gut, manche werden irgend­wann hier in Deutsch­land heimisch werden. Wer hier bleiben möchte und sich gut inte­griert hat, wer auf dem Arbeits­markt erfolg­reich ist, der kann auch bleiben. Wir werden ohne­dies durch die demo­gra­phi­sche Entwick­lung mehr Zuwan­de­rung und junge Menschen brau­chen. Nur muss es alles im Maß gehalten werden.

Sie haben die Aussage Frauke Petrys zum Einsatz von Schuss­waffen an der deut­schen Grenze stark kriti­siert. Wie recht­fer­tigen Sie die Tatsache, dass die Türkei finan­zi­elle Mittel von der EU erhält, obwohl dort laut Human Rights Watch an der Grenze auf Flücht­linge geschossen wird?

In der Türkei ist sicher­lich nicht alles in Ordnung, aber man muss fair über die Türkei urteilen. Die Türkei hat mindes­tens 2,5 Millionen Menschen aufge­nommen und unter­nimmt große Anstren­gungen, um die Kinder in die Schule zu bringen. Zwischen­durch haben sie mal die Grenze geschlossen, weil sie sagen, zu viele können sie auch nicht aufnehmen. Sie befinden sich ja in unmit­tel­barer Nach­bar­schaft zu Syrien. Dass sie schießen, ist mir nicht bekannt, und das ist auch keine Recht­fer­ti­gung dafür, unver­ant­wort­li­ches Zeug zu reden.

Die Frage bezog sich nicht auf die Aufnah­me­be­reit­schaft der Türkei, sondern auf die menschen­recht­li­chen Probleme, die dort exis­tieren.

Natür­lich macht die Türkei Dinge, die gar nicht mit unseren Werten zu verein­baren sind. Die Einschrän­kungen der Pres­se­frei­heit und vieles andere mehr sind über­haupt nicht in Ordnung. Trotzdem müssen wir aner­kennen, was die Türkei leistet, und ihr die Part­ner­schaft anbieten, statt sie von oben herab zu kriti­sieren. Die Türkei hat doppelt so viele Flücht­linge aufge­nommen wie ganz Europa und braucht sich in der Hinsicht von den Euro­päern keine Beleh­rungen anzu­hören.

Benö­tigen wir die Hilfe der Türkei, um die Flücht­lings­krise zu meis­tern?

Klar, wir müssen mit den Ländern, aus denen die Flücht­linge kommen, und mit deren Nach­bar­län­dern koope­rieren. Wir werden dafür viel mehr Hilfe leisten müssen, als wir es bisher gewohnt waren. Da kommt einiges an Aufgaben auf uns zu. Wir können nicht auf einer Insel der Seligen leben, alles, was wir produ­zieren in alle Welt expor­tieren, und sagen: im Übrigen wollen wir von der Welt nichts wissen.

Sie wissen sicher ganz gut über die Welt Bescheid, schließ­lich sind Sie der dienst­äl­teste Abge­ord­nete im Bundestag. Hat sich in Deutsch­land seit Antritt ihrer Amts­zeit 1972 zum Besseren oder zum Schlech­teren gewan­delt?

Das kann man so nicht sagen. Deutsch­land war 1972 ganz anders als heute. (Zeigt auf das Diktier­gerät) Solche Geräte gab’s damals nicht. Unser Land, wie alles andere auch, wandelt sich wahn­sinnig schnell. Wir sind hier in einem Gebäude, das damals das Haus der Minis­te­rien der DDR war. Man kam nur mit Passier­schein über­haupt nach Ostberlin, und man konnte sich gar nicht vorstellen, dass Berlin einmal nicht mehr durch eine Mauer geteilt werden wird. (Zeigt aus dem Fenster) Dort drüben ist sie verlaufen, und jetzt können sich viele nicht mehr vorstellen, dass da mal eine Grenze war. Schauen Sie, als ich so jung war wie Sie, bin ich zum ersten Mal zum Skifahren in die Alpen gekommen. Das ist heute auch anders. Meine Kinder waren im Schü­ler­aus­tausch in Amerika und was alles noch – wie viele junge Leute. Das ist eine andere Welt. Deutsch­land hat sich sehr entwi­ckelt. Die älteren Menschen meinen immer, es sei früher besser gewesen. Ich glaube das nicht. Wir haben heute mehr Möglich­keiten, als wir jemals hatten. Wir leben nun seit über 60 Jahren in Frieden, in einem im inter­na­tio­nalen Vergleich enormen Wohl­stand. Worüber klagen? Das Inter­view wurde am 27. April 2016 im Bundes­fi­nanz­mi­nis­te­rium geführt.


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