Gedan­ken­reise vor der Wahl

Datum
01. September 2019
Autor*in
Charlie Wien
Thema
#sltw19
IMG_0271

IMG_0271

Europa

Die Land­tags­wahl in Sachsen beschäf­tigt viele Menschen. po-Redak­teurin Charlie Wien sogar so sehr, dass sie zwei Tage vorher an nichts anderes mehr denken konnte. Ein paar persön­liche Gedanken und Erleb­nisse zur Wahl im Erlebnis-Proto­koll.

Freitag, 15 Uhr

Ich stehe am Leip­ziger Haupt­bahnhof. Über das Wochen­ende werde ich nach Dresden fahren. Am Sonntag finden in Sachsen Land­tags­wahlen statt und ich bin bei einer poli­ti­ko­range-Redak­tion dabei, um darüber zu berichten. Obwohl ich noch zur Schule gehe und aufgrund meines Alters nicht wählen darf, möchte ich teil­haben an dem, was die Gesell­schaft prägt: An Demo­kratie und Meinungs­äu­ße­rung. Ich möchte vor Ort sein, wenn darüber entschieden wird, wer die nächsten fünf Jahre die Entschei­dungen trifft. Der Zug ist voll, es sind fast 30°C. Auf Insta­gram reiht sich Wahl­wer­bung an Wahl­wer­bung. In weniger als zwei Tagen öffnen die Wahl­lo­kale. Wie in einem Film flackern in meiner Erin­ne­rung die vielen Schlag­zeilen der letzten Wochen vor meinen Augen: Entschei­dungs­wahl im Osten“, Kaum eine Koali­tion möglich“, Kret­schmer lehnt Koali­tion mit AfD ab“, Klima­wahl 2019 – Jetzt muss gehan­delt werden.“ Ich fühle eine Mischung aus Wut und Angst, es ist keine gute Mischung. Angst vor den Wahl­er­geb­nissen, dem Einfluss des Rechts­rucks, Wut über die Parteien, Frus­tra­tion, dass ich mich von keiner wirk­lich vertreten fühle.

Freitag, 18 Uhr

Als ich bei der Cocker­wiese in Dresden ankomme, sitzen hundert Jugend­liche im Gras. Sie reden in kleinen Gruppen von drei bis zehn Leuten, überall liegen Plakate herum und neben einer Gruppe Studie­render liegen Mega­fone auf dem Boden. Von einer großen Bühne schallt Musik, daneben locken Stände mit Essen. Es ist die Abschluss­ver­an­stal­tung von Fridays for Future Sachsen. Aber trotz Musik und dem sonnigen Wetter scheint die Stim­mung gedrückt. Die Frage Was, wenn…“ ist überall zu hören. Was, wenn die AfD in die Regie­rung kommt? Was, wenn es Neuwahlen gibt? Was, wenn der Klima­schutz in Sachsen unter den Tisch fällt? Ich höre zu, mein Unbe­hagen wächst. Diese poli­ti­schen Diskus­sionen und Vermu­tungen der gesamten vergan­genen Zeit sind ermü­dend, manchmal denke ich mir: Ich kann doch eh nichts verän­dern, warum also damit beschäf­tigen?“ Ande­rer­seits gibt es auch diese leise aber unüber­hör­bare und immer wieder­keh­rende Stimme in meinem Kopf: Nicht aufgeben! Nicht aufgeben! Nicht aufgeben!“

Freitag, 20 Uhr

Um von den poli­ti­schen Gesprä­chen wegzu­kommen, gehe ich mit ein paar Bekannten in den Alaun­park. Die Ärzte schallen laut über die Wiese, es ist trotz Sonnen­un­ter­gang immer noch warm. Überall wird laut gelacht, gegessen und getrunken. Die Stim­mung ist ausge­lassen, einige Jugend­liche haben ange­fangen, zu tanzen. Ich kenne die Menschen um mich herum nicht, weiß nicht, ob sie sich über­haupt mit Politik beschäf­tigen. Auf einmal scheint es mir so, als wären die ganzen Gedanken und sinn­losen Speku­la­tionen über die Wahl wegge­fegt worden von der sorg­losen Freude am Sommer.

Freitag, 22:30 Uhr

Irgendwie bin ich an den Elbwiesen gelandet. Es ist inzwi­schen komplett dunkel. Hier sind bestimmt 300 Leute und feiern einen Geburtstag von jemanden, die oder den keiner wirk­lich zu kennen scheint. Ich kenne kaum jemanden, doch die Stim­mung ist auch hier gut. Dann ruft plötz­lich jemand laut: Die Bullen sind da!“. Im Augen­winkel fällt mir auf, dass er schwarze Sprin­ger­stiefel mit weißen Schnür­sen­keln trägt, ein Symbol der Neonazis, bei dem die Stahl­kappen mit dem Weiß für die über­le­gene Stärke der weißen Gesell­schaft stehen. Urplötz­lich hat sich die Party aufge­löst. Verwirrt stehe ich irgendwo im Dunkeln und fühle mich brutal aus meiner guten Stim­mung heraus­ge­rissen. Durch den bloßen Anblick von Schuhen, Schuhe von jemanden, den ich nicht einmal kenne, fange ich wieder an zu zwei­feln: Ist Sachsen wirk­lich so, wie die großen Medien berichten: Ein braunes Nazi-Land? Oder doch eher, wie ich es aus Leipzig kenne: Viel­fältig, enga­giert, diskurs­be­reit? Lebe ich tatsäch­lich in meiner komfor­ta­blen Blase mit Menschen, die für die Demo­kratie einstehen, oder sind die vielen Meldungen über Sachsen einfach Schwarz­ma­lerei?

Freitag, 23 Uhr

Auf dem Weg in mein Hotel komme ich an eine Halte­stelle, an der viele junge Menschen sitzen und auf die Stra­ßen­bahn warten. Ein Mädchen, viel­leicht 16 Jahre alt, zeigt auf ein Wahl­plakat der AfD, auf dem steht: Bunte Viel­falt? Haben wir schon!“. Lass uns das abreißen“, ruft sie wütend einem Jungen zu, er winkt ab, das Plakat sei zu hoch befes­tigt. Eine weitere Jugend­liche mischt sich ein: Man könnte auf den anderen Plakaten hoch­klet­tern!“. Sie beginnen, laut­stark über weitere Möglich­keiten zu disku­tieren. Der Versuch, eine Räuber­leiter aus fünf Leuten zu bilden, schei­tert als die Bahn einfährt.

Samstag, 14 Uhr

Ich stehe mitten in der Dresdner Neustadt und habe mich verlaufen. Ich sehe Aufkleber mit der Aufschrift Kein Viertel für Nazis!“. Aus einem Fenster hängt die Euro­pa­flagge. Ist das das Pegida – Dresden, das vor drei Jahren dauernd in den Nach­richten war? Ich muss lächeln. Kurz ist es so, als sei ganz Sachsen für Europa.

Samstag, 22 Uhr

Ich komme an einer Stra­ßen­kreu­zung vorbei. Dutzende Leute sitzen auf der Bürger­steig­kante. Bier­fla­schen werden herum­ge­reicht und vor den erleuch­teten Schau­fens­tern spielen drei Frauen Skat. An einer Ecke stehen zwei Männer, die scheinbar zu den Grünen gehören. Mit Bauch­laden, Wahl­pro­grammen, Kugel­schrei­bern und kleinen Tüten voll Sonnen­blu­men­samen spre­chen sie die Passanten an und machen Werbung für morgen. Es ist eine schöne Atmo­sphäre und ich fühle mich, als würde ich nach Hause kommen. Jeder unter­hält sich mit jedem, alle lachen und selbst die beiden Poli­tiker sehen locker und entspannt aus, als wären sich alle einig, als würde morgen alles gut ausgehen.

Sonntag, 2:45 Uhr

Ich liege im Bett in meinem Hotel. Von der Straße hallt eine ange­trun­kene Frau­en­stimme in mein Zimmer hinein und hält mich vom Schlafen ab: Wisst ihr, meine Mutter wählt die FDP. Ich bin stolz auf sie, auch wenn die FDP nicht gut ist, denn mein Vater wählt die AfD.“

Sonntag, 7:34 Uhr

Nach dem Aufwa­chen schaue ich auf die Uhr und mein erster Gedanke ist, dass in weniger als einer halben Stunde die Wahl­lo­kale öffnen. Auf Insta­gram poste ich noch bevor ich aufstehe: Bitte geht wählen!“. Ich komme mir kurz etwas albern vor, denn alle großen Parteien mit so viel mehr Reich­weite haben seit Wochen bereits das selbe getan. Aber immerhin gibt es mir das Gefühl, etwas tun zu können.

Sonntag, 14:15 Uhr

Ich schaue Nach­richten. Die Wahl­be­tei­li­gung ist deut­lich höher als bei der Land­tags­wahl vor fünf Jahren. Verläss­liche Hoch­rech­nungen gibt es noch nicht, aber in den Schlag­zeilen geht es fast durch­ge­hend um die Wahl im Osten“, mit frag­wür­digen Erklä­rungen, wie sich die neuen Bundes­länder von den alten unter­scheiden. Ob sie recht haben, weiß ich nicht. Aber ich habe die Hoff­nung, dass Sach­sens Gesell­schaft mit dieser hohen Wahl­be­tei­li­gung zeigt, dass die demo­kra­ti­schen Grund­rechte, die wir hier in Deutsch­land glück­li­cher­weise haben, auch auf demo­kra­ti­schen Wege vertei­digt werden.

Mir wird manchmal gesagt, dass ich mit 16 Jahren kaum etwas weiß und zu wenig Erfah­rung habe, um Politik zu verstehen. Vermut­lich stimmt das, aber ich habe eine sehr klare Vorstel­lung von meiner Zukunft und sie heißt Demo­kratie. Eine Demo­kratie, in der gemeinsam nach Lösungen gesucht wird. Eine tole­rante, welt­of­fene Demo­kratie, in der man frei mitein­ander redet, anstatt sich anzu­f­einden.


Empfohlene Beiträge

Artikel

Die CDU muss sich verjüngen“

Marija Skvoznikova

Artikel

5 Lehren aus der Sach­sen­wahl

Julius Kölzer

Artikel

So trifft Dresden die Wahl

Marija Skvoznikova