Demo­kratie, Wandel und Infor­ma­ti­ons­di­let­tan­tismus

Datum
06. November 2023
Autor*in
Helin Tuana Topcu
Themen
#Medien #JMWS23
Beitragsbild Helin

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Foto: Pixaby / Azan Kamolov
Die AfD kommt an, vor allem bei immer mehr jungen Wähler*innen. Das hängt mit ihrem Erfolg auf den sozialen Medien zusammen, kommen­tiert Helin Topcu.

Die AfD kommt an, vor allem bei immer mehr jungen Wähler*innen. Das hängt mit ihrem Erfolg auf den sozialen Medien zusammen, kommen­tiert Helin Topcu.

Nach der Wahl ist vor der Empö­rung – zumin­dest in Hessen und Bayern: Mal geht es um das Versagen der Ampel-Koali­tion auf Bundes­ebene, mal um die mangelnde Führungs­kom­pe­tenz von Olaf Scholz als Bundes­kanzler. Das alles sind Aspekte, die in der Debatte durchaus ihre Berech­ti­gung haben, trotzdem sind sie eher Belange der aktu­ellen Legis­la­tur­pe­riode der Ampel­ko­ali­tion. Im öffent­li­chen Diskurs liegt der Fokus schon lange auf den falschen Themen. In Talk­shows wird nur an der Ober­fläche der Ursa­chen gekratzt, statt den Eisblock des Rechts­rucks aufzu­bre­chen. Dabei wäre das jetzt wichtig – vor allem mit Blick auf den Trend nach rechts bei Erstwähler*innen. Denn der hängt auch mit dem Erfolg rechter Parteien wie der AfD auf den sozialen Medien zusammen.

Durch­schnitt­lich verbrachten die Deut­schen 2017 über vier Stunden am Tag online und nutzten dazu meis­tens ihre Smart­phones. Rund 33,4 Millionen Personen in Deutsch­land nutzen das Internet 2022 mehr­mals täglich, rund 12,7 Millionen sogar fast die ganze Zeit. Doch welche Inhalte errei­chen die User*innen da? Wie viele davon sind mit einer poli­ti­schen Message versehen?

Wie Menschen an poli­ti­sche Infor­ma­tionen kommen, hat sich in den vergan­genen Jahren stark verän­dert: Früher war es üblich, die Nach­richten in der Tages­zei­tung zu lesen. Vor 10 Jahren, als immer mehr Menschen sich auf den sozialen Medien ange­meldet haben, öffneten sich neue Foren und Räume für Diskus­sion und Dialog.

Digital Natives sind damit konfron­tiert, ständig Stück­chen von poli­ti­siertem Wissen mit sich in der Hosen­ta­sche zu tragen. Das beein­flusst ihr Verständnis von Demo­kratie und Politik: Ihre Geduld, Aufmerk­sam­keits­spanne und Frus­tra­ti­ons­to­le­ranz für Prozesse, die andauern und komplex sind, nimmt ab. Poli­ti­sche Infor­ma­tionen haupt­säch­lich aus den sozialen Medien zu beziehen, bedeutet, sich anhand von absicht­lich verknappten Formaten sehr ober­fläch­lich mit sehr viel zu beschäf­tigen.

Diese Reiz­über­flu­tung machen sich vor allem Parteien im rechten Spek­trum zu Nutzen – und sie dringen damit durch. Menschen zu sich zu ziehen und sie auch zu behalten – Parteien wie die AfD haben modern infor­mieren, pola­ri­sieren und isolieren verstanden. Auf ihrem TikTok-Account postet die AfD-Bundes­tags­frak­tion kontext­lose Ausschnitte aus Plenar­sit­zungen mit provo­kanten und pole­mi­schen Behaup­tungen in der Über­schrift. So schreiben sie beispiels­weise: DIE AMPEL-REGIE­RUNG HASST DICH“, GRÜNE ENDZEIT SEKTE“ oder DIE LINKS­GRÜNEN WOLLEN DEUTSCH­LAND ABSCHAFFEN“ . Diese Über­schriften sind auf jedem Video in der Profil­an­sicht in Groß­buch­staben mit ausdrucks­starken Emojis zu sehen. Sie regen zur Neugier und demnach dazu an, die Videos anzu­schauen.

Da ein selek­tiver und profit­ori­en­tierter Algo­rithmus davon lebt, User*innen zu fesseln und auf der Platt­form zu halten, werden Videos wie die von der AfD, die genau das schaffen, vom Algo­rithmus belohnt.

Wir denken, die Demo­kratie gepachtet zu haben, sie schon zu eigen gemacht zu haben. Doch das ist sie nicht, wenn wir sie nicht schützen, sowohl digital als auch analog. Meinungs­bil­dende Prozesse sind schlei­chende und häufig unbe­wusste Prozesse. Im digi­talen Zeit­alter ist es für viele Menschen keine Option mehr, ganz ohne die sozialen Medien zu leben. Das ist legitim. Uns muss aber bewusst sein, wie die sozialen Medien unseren Demo­kratie- und Poli­tik­ge­danken beein­flussen. Verschwim­mende Frus­tra­ti­ons­grenzen sind bei all den Reizen und Inhalten, denen wir täglich ausge­setzt sind, nach­voll­ziehbar. Aber an dem Punkt, an dem wir die Demo­kratie und die poli­ti­sche Land­schaft nur noch verteu­feln, sollten wir einen Schritt zurück machen und den Tab schließen und uns ein paar Fragen stellen: Hätte ich heute von allem mitbe­kommen, wenn ich nicht online gewesen wäre? Hätte ich mich darüber geär­gert? Wie ausge­gli­chen war mein Feed heute? Wie vertrau­ens­würdig waren die Infor­ma­tionen, Quellen und Bilder? Zu welchen Ereig­nissen und Inhalten habe ich geprüft, was eigent­lich an ihnen dran ist? Die Demo­kratie ist unser höchstes und schüt­zens­wer­testes Gut, beson­ders in unserer immer digi­ta­leren Medi­en­land­schaft.

Disclaimer: Der Beitrag spie­gelt ausschließ­lich die Meinung der Autorin wider und nicht die der Projektpartner*innen des Jugend­me­di­en­work­shops im Deut­schen Bundestag 2023 (Jugend­presse e.V., Bundes­zen­trale für poli­ti­sche Bildung, Deut­scher Bundestag).


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