Bildungs­po­litik: Exklu­diert von der Inklu­sion

Datum
03. Oktober 2021
Autor*in
Jasmin Nimmrich
Themen
#AGHW21 #Leben
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Foto: Clay Banks/ unsplash

Für inklu­sive Bildung erreichte der Berliner Senat wenig. Wie poli­ti­sche Entschei­dungen die Inklu­sion von Schüler*innen mit kogni­tiven oder physi­schen Einschrän­kungen blockieren – ein Kommentar.

Zu Beginn der vergan­genen Legis­la­tur­pe­riode formu­lierte der Haus­halts­plan des Berliner Senats das Ziel, 36 Schulen zu Schwer­punkt­schulen bis zum Schul­jahr 2020/21 umzu­struk­tu­rieren oder auszu­bauen. Laut Berliner Schul­ge­setz sollen diese Schulen, die beson­deren perso­nellen, säch­li­chen und räum­li­chen Rahmen­be­din­gungen im Sinne geeig­neter Ange­bote für Schüler*innen mit sonder­päd­ago­gi­schem Förder­be­darf bereit­stellen. 2021 zählt das Land Berlin ledig­lich 20 solcher Bildungs­stätten, die ihre Status­än­de­rung bewil­ligt bekommen haben. Dies reiht sich in eine Viel­zahl von poli­ti­sche Hand­lungs­ent­schei­dungen ein, die die aufrich­tige Inklu­sion von Schüler*innen mit kogni­tiven oder physi­schen Einschrän­kungen blockieren. In vielen Einzugs­ge­bieten besteht ein akuter Mangel an Schwer­punkt­schulen, die den indi­vi­du­ellen Bedarfen der Kinder gerecht werden. Denn die ungleiche Vertei­lung der zerti­fi­zierten Schulen über das Stadt­ge­biet hinweg verhin­dert faire Zugangs­chancen auf inklu­sive Bildung. Zusätz­lich bedeutet das Bestehen einer Schule im Einzugs­ge­biet nicht auto­ma­tisch die Wahl­frei­heit für Kinder mit kogni­tiven oder physi­schen Einschrän­kungen. Aufgrund der indi­vi­du­ellen Anfor­de­rungen, die mit dem eigenen Handicap einher­gehen, mini­miert sich, je nach Förder­schwer­punkt, pädago­gi­schem Konzept und Ressourcen der Schulen, die Auswahl erheb­lich. Unter Umständen müssen Schüler*innen demnach einen kräf­te­rau­benden, zeit­auf­wen­digen und längeren Schulweg in Kauf nehmen.

Schule muss anders, und das eher heute als morgen

Zivile Akteur*innen pran­gern den Mangel an Schwer­punkt­schulen und den zurück­hal­tenden poli­ti­schen Einsatz für inklu­sive Bildungs­an­ge­bote an. Zu ihnen zählt unter anderem die Kampagne Schule muss anders“, die seit April diesen Jahres exis­tiert und sich unter­and­erem für den Ausbau aller Berliner Schulen zu inklu­siven Schwer­punkt­schulen ausspricht.

Anne Lautsch setzt sich nicht nur im Alltag für die Inter­essen und Perspek­tiven ihres Sohnes mit Trisomie-21 ein, sondern enga­giert sich auch bei Schule muss anders“ für die schu­li­sche und profes­sio­nelle Zukunft ihres Kindes. Die aktu­elle Verwal­tung und ihre Bestreben beschreibt Lautsch als ein Mangel­system. Es benö­tige ein Schul­system, das sich um das gemein­same Lern­erlebnis von Kindern mit und ohne Behin­de­rung bemüht und damit den Weg für eine Gesell­schaft ebnet, für die nicht die Einschrän­kungen, sondern die Poten­tiale einer Person entschei­dend sind“, sagt sie. Doch der Senat setzte in der vergan­gene Legis­la­tur­pe­riode eher auf Exklu­sion als Grad­messer für Inklu­sion.

Mit einer Inklu­si­ons­quote von 5,8 Prozent für das Schul­jahr 2018/19 lag das Land Berlin zwar über dem deut­schen Durch­schnitt von 3,2 Prozent, doch ohne die Betrach­tung der Exklu­si­ons­quote ist die quan­ti­ta­tive Erfas­sung wenig aussa­ge­kräftig. Die Exklu­si­ons­quote gibt nämlich den Anteil von Schüler*innen an, die an Förder­schulen beschult werden und somit in normalen“ Klas­sen­räumen keinen Platz finden. In Berlin blieb dieser Prozent­wert laut der Bertels­mann-Stif­tung in den Schul­jahren 2018/19 und 2019/20 unver­än­dert bei 2,4 Prozent und wird sogar für das Schul­jahr 2030/31 mit minimal gesun­kenen 2,3 Prozent prognos­ti­ziert. Wenn bis dahin die Sepa­rie­rung von Schüler*innen mit Förder­be­darf fast unver­än­dert bleibt, bleiben die Inklu­si­ons­be­mü­hungen nur ein Tropfen auf den heißen Stein.

Nach­hal­tige gesell­schaft­liche Verän­de­rungen sind nötig

Um die Inklu­si­ons­fort­schritte der Berliner Schulen voran­zu­treiben, fordert das Berliner Bündnis für schu­li­sche Inklu­sion, das Mitin­itiator und Teil der Kampagne Schule muss anders“ ist, den Umbau und die Umstruk­tu­rie­rung von reinen Förder­schulen hin zu inklu­siven Schulen, die Schüler*innen mit und ohne Behin­de­rung unter­richten. Doch die schei­dende Bildungs­se­na­torin Sandra Scheeres (SPD) schlug in der vergan­genen Legis­la­tur­pe­riode einen anderen Weg ein: Sie versprach für das Schul­jahr 2020/21 den Ausbau von 800 zusätz­li­chen Schul­plätzen an Förder­schulen für Kinder mit geis­tiger Behin­de­rung. Für die Inklu­si­ons­fä­hig­keit der Berliner Schul­bil­dung bedeutet das einen zusätz­li­cher Rück­schritt, denn Scheeres Vorstoß wird zum Einen dem Bedarf an Schul­plätzen nicht gerecht und verstärkt zusätz­lich die Tren­nung der Bildungs­an­ge­bote für Schüler*innen mit und ohne Behin­de­rung.

Für die Kampagne Schule muss anders“ reichen einfache Wort­be­kun­dungen und Absichts­er­klä­rungen der Politik daher nicht mehr aus: Die Bildungs­per­spek­tiven der Berliner Schüler*innen müssen inklu­siver, chan­cen­glei­cher und zukunfts­wei­sender gestaltet werden. Momentan, so Anne Lautsch, fehle es aber an Krea­ti­vität in der poli­ti­schen Umset­zung und es domi­niere eine Mutlo­sig­keit für grund­le­gende Verän­de­rungen“.

Nichts­des­to­trotz ist es Initia­tiven wie Schule muss anders“ im laufenden Wahl­kampf und unab­hängig von poten­zi­ellen Endergeb­nissen gelungen, die Belange von Berliner Schüler*innen, Lehrer*innen und Eltern zu einem bestim­menden Thema zu machen. Doch entschei­dend für die Chancen und Perspek­tiven von Kindern mit Behin­de­rungen, sowie für die Entlas­tung der unter­stüt­zenden Fami­lien, wird die Beset­zung der Senats­ver­wal­tung für Bildung, Jugend und Familie sein. Es bleibt zu hoffen, dass sich inner­halb der neuen Landes­re­gie­rung ein aufrich­ti­geres Enga­ge­ment für die Inklu­sion von Menschen mit Behin­de­rung finden wird. Denn nur wenn es dem Bildungs­system gelingt, dieje­nigen zu bedenken, die viel­leicht inte­griert, aber noch lange nicht inklu­diert sind, können wir die Inklu­sion auch gesamt­ge­sell­schaft­lich voran­bringen.


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