Wir brau­chen mehr direkte Demo­kratie

Datum
29. September 2021
Autor*in
Lena Rückerl
Themen
#AGHW21 #Politik
Ja

Ja

Der Wahl­sonntag war auch ein Erfolg für direkte Demo­kratie. Die Initia­tive Deut­sche Wohnen & Co. Enteignen“ zeigt, warum wir mehr Volks­ent­scheide ohne verpflich­tende Umset­zung brau­chen. Ein Kommentar.

Es gab kaum ein Entkommen. Überall standen sie, an S‑Bahneingängen, in Parks, mitten auf der Straße: Die Unterschriftensammler*innen für das Volks­be­gehren Deut­sche Wohnen & Co. enteignen“. Sie waren diesen Sommer im Wahl­jahr omni­prä­sent, etwa 2000 Menschen haben sich nach Angaben der Initia­tive für das Volks­be­gehren enga­giert. Bürger*innen konnten sich bei einem sie betref­fenden Thema – dem Berliner Wohnungs­markt – betei­ligen und sollten es auch. Direkte Demo­kratie stei­gert die Beschäf­ti­gung vieler mit der Politik einzelner. Jetzt ist klar, es hat sich gelohnt. Eine deut­liche Mehr­heit, 56,4 Prozent der Berliner*innen, hat mit Ja“ für die Enteig­nung von Wohn­kon­zernen gestimmt. Der Volks­ent­scheid forderte von Politiker*innen eine klare Stel­lung­nahme und bei Ableh­nung der Initia­tive ein konkretes Angebot anderer Lösungen der Wohnungs­pro­ble­matik. Ein Wir bauen mehr Wohnungen“ reichte als Antwort kaum.

Der Spiel­raum für den nächsten Senat ist groß

In Berlin wurde über einen soge­nannten Beschluss­volks­ent­scheid abge­stimmt. Dass Forde­rungen des Entscheides nach einer Enteig­nung privater Wohnungs­un­ter­nehmen umge­setzt werden, bedeutet dies aber noch lange nicht. Denn im Gegen­satz zu Geset­zes­volks­ent­scheiden, bei dem über ein bereits fertiges Gesetz abge­stimmt wird, sind Beschluss­volks­ent­scheide nur eine Auffor­de­rung an den Senat, keine Verpflich­tung. Es wird auch vom poli­ti­schen Willen desselben abhängen, inwie­weit der Volks­ent­scheid seine Umset­zung in die Realität findet.

Nach aktu­ellem Stand ist eine Fort­füh­rung der rot-rot-grünen Regie­rung mit stär­kerem Einfluss der Grünen eine wahr­schein­liche Option. Die Gewin­nerin der Wahl, Fran­ziska Giffey (SPD), sicherte dem Volks­ent­scheid im ARD-Morgen­ma­gazin eine ernst­hafte Prüfung zu, zwei­felte aber wie bereits zuvor an seiner Sinn­haf­tig­keit und Umsetz­bar­keit. Bettina Jarasch von den Grünen hat zwar ange­geben, für den Volks­ent­scheid zu stimmen, und dessen Bedeu­tung betont, aller­dings wirbt auch sie für alter­na­tive Konzepte. Eine eben­falls mögliche Deutsch­land-Koali­tion stände defi­nitiv nicht hinter dem Volks­ent­scheid. CDU und FDP hatten ihre Ableh­nung im Wahl­kampf deut­lich gemacht.

Dass die Mehr­heits­ver­hält­nisse der Parteien eine andere Sprache als der Volks­ent­scheid spre­chen, ist jedoch gut so. Genau dafür sind Volks­ent­scheide da. Ein Volks­ent­scheid ermög­licht es Bürger*innen ihre Meinung zu einem Thema klar­zu­ma­chen, losge­löst von den ganzen Partei­ideo­lo­gien.

Themen versus Parteien

Ausschließ­lich der Spit­zen­kan­didat der Linken, Klaus Lederer, hatte ange­kün­digt, den Volks­ent­scheid bei Erfolg umsetzen zu wollen. Seine Partei hat als einzige geschlossen hinter der Initia­tive gestanden, sie sogar aktiv unter­stützt. Doch konnten sich viele derer, die mit Ja“ gestimmt haben, nicht ausrei­chend mit der Linken als Ganze iden­ti­fi­zieren. Der Volks­ent­scheid ermög­lichte ihnen, trotzdem ihre Meinung zu diesem Thema deut­lich zu machen und den poli­ti­schen Druck gezielt zu verteilen.

Der Volks­ent­scheid zur Enteig­nung bot für viele ein nieder­schwel­liges Angebot zum poli­ti­schen Enga­ge­ment und forderte Wähler*innen zu einer Abstim­mung über eine Themen­frage, welche vorhe­rige Beschäf­ti­gung voraus­setzte und über mögliche Sympa­thien zu bestimmten Politiker*innen hinaus­ging. Solche Möglich­keiten zur direkt­de­mo­kra­ti­schen Betei­li­gung stei­gern nach­weis­lich die Zufrie­den­heit der Bevöl­ke­rung mit dem jewei­ligen poli­ti­schen System.

In einer reprä­sen­ta­tiven Demo­kratie wie Deutsch­land sollte das Volk die Macht haben und Volksvertreter*innen sollten mit der notwen­digen Exper­tise den Willen des Volkes umsetzen. Volks­ent­scheide wie Deut­sche Wohnen & Co. enteignen“ sind demnach Demo­kratie in ihrer Grun­d­es­senz. Dass ein solches Abstim­mungs­recht auch auf Bundes­ebene einge­führt wird, befür­worten 72 Prozent der Deut­schen laut infra­test dimap Umfrage.

Objek­tive Entschei­dungen gibt’s nicht

Die Kritik an direkter Demo­kratie lautet oft, dass sie anfällig für Beein­flus­sung von außen sei. Die Flug­ge­sell­schaft Ryanair und die FDP beein­flussten den Volks­ent­scheid zur Offen­hal­tung des Flug­hafen Tegel im Jahr 2017 zum Beispiel stark. Die Antwort darauf darf aber nicht sein, dass Direkt­de­mo­kratie und Volks­ent­scheide keinen Sinn machen. Diese Forde­rung bedient ein Narrativ, welches Bürger*innen als willen­lose und leicht beein­fluss­bare Objekte sieht. Ein Bild, welches gefähr­lich ist, für die Staats­form Demo­kratie, die auf die Entschei­dungs­macht der gesamten Gesell­schaft setzt.

Es wird und wurde lange disku­tiert, ob der Volks­ent­scheid Deut­sche Wohnen & Co. enteignen“ über­haupt umsetzbar ist, aber das ist erst einmal egal. Die Bürger*innen haben sich für den Volks­ent­scheid entschieden, ob und wie er umsetzbar ist, das ist jetzt Aufgabe der Politik – das liegt nicht in der Verant­wor­tung der Bürger*innen. Der neue Senat, egal in welcher Zusam­men­set­zung, wird dagegen zur Verant­wor­tung gezogen, die Bedürf­nisse der Bürger*innen nicht weiter zu igno­rieren.


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