How to: Kinder ungleich behan­deln

Datum
08. Dezember 2019
Autor*in
Leonie Ziem
Thema
#Jugendstrategie19
Teilnehmerin sitzt im Konferenzraum des Bundeskanzleramtes

Teilnehmerin sitzt im Konferenzraum des Bundeskanzleramtes

Foto: Sascha Kemper

Nach der Grund­schule geht’s ans Selek­tieren. Wer darf auf das Gymna­sium und wer nicht? Bei der Schul­lauf­bahn­emp­feh­lung entscheidet oft nicht die Schul­leis­tung, sondern das Eltern­haus, aus dem die Kinder stammen. Leonie Ziem geht der Sache auf den Grund.

Man braucht viel Glück und das ist traurig“, sagt Isi und ergänzt, Bildung sollte nicht vom Glück abhängen.“ Mit ganzem Namen heißt Isi eigent­lich Işilay Işilar-Güneş. Wenn sie spricht, malt sie oft Anfüh­rungs­zei­chen in die Luft: Etwa bei Wörtern wie deutsch“ oder wenn es darum geht, dass ihre Eltern beruf­lich nicht Wildes“ machen würden. Ich habe eine verdammt große Familie und ich bin die Einzige mit einem akade­mi­schen Abschluss“, erklärt sie, korri­giert sich jedoch später noch mal, als ihr eine Cousine einfällt, die auch studiert hat.

Lässig an einen Steh­tisch gelehnt, erzählt Isi, dass ihre Eltern Gast­ar­bei­ter­kinder sind. Ihre Mutter kam mit sechs, ihr Vater mit 16 Jahren nach Deutsch­land. Er war damals Analphabet und lernte inner­halb von drei Monaten in einer Berufs­schule lesen und schreiben, um daraufhin direkt Unter­tage arbeiten zu gehen.

Alltags­ras­sismus hat Isi als Jugendliche über­haupt nicht wahr­ge­nommen, und das, obwohl ein Lehrer sie Lakritz­kopf“ nannte. Erst als sie nach einem Auslands­auf­ent­halt zurück nach Deutsch­land kam, hat sie gemerkt, wie präsent Rassismus im Alltag ist. Doch Rassismus lache ich aus.“ sagt sie bestimmt. Momentan ist sie ehren­amt­lich im schu­li­schen Kontext enga­giert, weil sie gemerkt hat, dass das Bildungs­system Unter­drü­ckungs­me­cha­nismen und Bildungs­un­gleich­heiten nicht auffangen kann.

Sag mir, was deine Eltern machen, und ich sage dir, auf welche Schule du gehst

Die erste Selek­tion von Schü­le­rinnen und Schü­lern findet beim Über­gang von der Grund­schule zur weiter­füh­renden Schule statt. Viele, so auch Isi, stellen die Forde­rung, flächen­de­ckend in Deutsch­land erst nach der sechsten Klasse die Schü­le­rinnen und Schüler zu trennen. Eine Selek­tion nach der vierten Klasse, wie sie in vielen Bundes­län­dern üblich ist, wird vermehrt für pädago­gisch frag­würdig gehalten.

Nina Kolleck, Profes­sorin und Inha­berin des Lehr­stuhls für Poli­ti­sche Bildung an der Univer­sität Leipzig, sagt: Es gibt unter­schied­liche Faktoren, die bei der Schul­lauf­bahn­emp­feh­lung durch Grund­schul­leh­re­rinnen und ‑lehrer eine Rolle spielen. Zum einen natür­lich die Schul­noten und die Kompe­tenzen der Kinder. Beson­ders inter­es­sant sind aber die Schul­lauf­bahn­emp­feh­lungen der Kinder mit mittel­mä­ßigen Leis­tungen. Hier zeigt sich, dass der sozio­öko­no­mi­sche Status der Familie einen ganz entschei­denden Effekt hat. Kinder aus so genannten bildungs­nahen‘ Fami­lien erhalten mit mittel­mä­ßigen Schul­leis­tungen signi­fi­kant öfter eine Gymna­si­al­emp­feh­lung als Kinder der so genannten Bildungs­fernen‘. Das ist ein schwie­riger Effekt vor dem Hinter­grund der Bildungs­un­gleich­heit.“

Wie Bildungs­un­gleich­heiten abbauen?

Die deut­sche Bildungs­wis­sen­schaft ist sich einig: Einer der grund­le­genden Schul­funk­tionen ist die Selek­tion. Isi erzählt: Meine Lehrerin hat damals gesagt, ich sollte lieber auf die Real­schule gehen. Keine Ahnung, warum.“ Zwar hatte Isi mittel­mä­ßige Schul­noten, doch dafür genug Willens­kraft. Und das sollte doch auch zählen, oder?“ fragt sie. Nachdem Isi auf der Real­schule war, machte sie ihr Fach­ab­itur und studierte schließ­lich BWL.

Sollten also erst nach der sechsten Klasse Empfeh­lungen ausge­spro­chen werden? Profes­sorin Nina Kolleck ist skep­tisch, ob eine fairere Beur­tei­lung von Kindern durch eine längere Grund­schul­lauf­zeit herge­stellt werden kann. Der Effekt wird dadurch nicht elimi­niert. Es gibt bereits einige Bundes­länder, deren Schul­sys­teme eine Grund­schul­lauf­zeit bis zum Ende der sechsten Klasse vorsehen. Dort lässt sich aber genauso beob­achten, dass Schü­le­rinnen und Schüler, die eher mittel­mäßig abschneiden, von den Lehr­kräften unter­schied­lich – je nach Eltern­haus – bewertet werden.“

Hinter der Forde­rung, Kinder erst nach der sechsten Klasse zu trennen, steht zwar der Gedanke, die gemein­same Schul­zeit zu verlän­gern und dadurch Bildungs­un­gleich­heiten abzu­bauen, jedoch hängt dies sehr stark vom Kind ab. Einer­seits gibt es das Argu­ment, dass die Pubertät in der sechsten Klasse beginnt – das ist nicht das ideale Alter für die Selek­tion und um eine Klasse ausein­an­der­zu­reißen. Ande­rer­seits, gibt es auch Schü­le­rinnen und Schüler, die bis zur vierten Klasse noch nicht so gut waren und plötz­lich ab der fünften Klasse einen Leis­tungs­schub erfahren. Von daher gibt es sowohl Argu­mente für als auch gegen eine Verlän­ge­rung der Grund­schul­zeit. Eine mögliche Lösung ist die Gemein­schafts­schule, in der Kinder vom Anfang bis zum Ende gemeinsam lernen“

Isi ist der Ansicht, das Bildungs­system habe versagt. Es gibt nur wenige Lehr­kräfte, die das ausglei­chen“, sagt sie. Viel­leicht muss somit der Gedanke der Selek­tion einmal gründ­lich hinter­fragt werden. Zwar scheint es sinn­voll, dass die Schule jeder Schü­lerin und jedem Schüler indi­vi­du­elle Förde­rungs­maß­nahmen bietet, aber warum muss dies durch Selek­ti­ons­in­stru­mente geschehen? Eine faire“ Selek­tion in Anbe­tracht von rassis­ti­schen und klas­si­zis­ti­schen Tendenzen im Alltag ist schwer möglich.


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