Der sichere Hafen

Datum
29. März 2017
Autor*in
Lynn Rossler
Thema
#djht17
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Über 35.000 unbe­glei­tete Minder­jäh­rige sind im Jahr 2016 nach Deutsch­land gekommen. Nach einer schweren und trau­ma­ti­sie­renden Flucht sind sie auf beson­dere Betreuung ange­wiesen. Ein Weg diesen jungen Menschen zu helfen ist die ehren­amt­liche Vormund­schaft. Lynn hat sich mit einem Vormund und seinem Schütz­ling über ihre Erleb­nisse unter­halten.

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Helmut Wende (rechts außen) und Younis Twaha (2. von links) profitieren gleichermaßen von der ehrenamtlichen Vormundschaft. Foto: Anna Rakhmanko.

Helmut Wende, pensio­nierter Kapitän, wirkt selbst­si­cher und boden­ständig. Ein Mann, der weiß, was er will und keine Angst hat, das auch zu sagen. Jemand, der sich bereit erklärt, mit anzu­pa­cken. Seit einiger Zeit ist er ehren­amt­li­cher Vormund für den Geflüch­teten Younis Twaha. Auf dem 16. Deut­schen Kinder- und Jugend­hil­fetag erzählen die beiden von ihren Erfah­rungen.

Im Rahmen einer Fach­ver­an­stal­tung klären Wolf­gang Rüting vom Kreis­ju­gendamt Waren­dorf und Prof. Dr. Sigrid Bathke vom Institut für soziale Arbeit e.V. über ehren­amt­liche Vormund­schaften auf. Ein ehren­amt­li­cher Vormund erklärt sich bereit, seinen Schütz­ling vor allem bei admi­nis­tra­tiven Pflichten zu unter­stützen. Er nimmt den Jugend­li­chen zwar nicht in seinem Zuhause auf, verbringt jedoch mindes­tens einmal im Monat Zeit mit ihm. Wie genau die Bezie­hung sich dabei entwi­ckelt, hängt von dem Vormund und seinem Schütz­ling ab.

Darf ich Vater zu dir sagen?“

Herr Wende erfuhr von ehren­amt­li­chen Vormund­schaften durch eine Zeitungs­an­zeige des Jugend­amts. Er absol­vierte eine Schu­lung und lernte am 1. April 2016 Younis kennen, einen mitt­ler­weile 16-jährigen Geflüch­teten, der vor knapp andert­halb Jahren unbe­gleitet aus Afgha­ni­stan nach Deutsch­land gekommen ist. Hab‘ gedacht, den besuchst du einmal alle zwei Wochen, guckst mal nach dem Rechten. Und wenn er ganz top ist, darf er auch mal zum Kaffee kommen.“, so die Anfangs­ein­stel­lung von Herrn Wende. Doch es kam anders: Der ist jetzt wie ein Sohn für uns.“ Trotz der engen Bindung gibt es auch viele Sorgen: Wird Younis seinen Haupt­schul­ab­schluss schaffen? Wie kann er den ersehnten Kontakt zu seiner Familie in Afgha­ni­stan herstellen?

Der Anfang in Deutsch­land war für Younis nicht einfach. Er kam ganz alleine in ein Land, dessen Sprache er nicht beherrschte und dessen Kultur er nicht verstand. Er hat bis heute keinen Kontakt zu seinen Eltern. Die aktu­elle Tele­fon­nummer kennt er nicht, Brief­kon­takt könnte seine Familie im von den Taliban beherrschten Gebiet in Schwie­rig­keiten bringen. Wie sehr er sie vermisst, machte sich schon beim ersten Treffen mit Herrn Wende bemerkbar: Wir waren einkaufen und auf der Rück­fahrt fragte er: ˛Darf ich Vater zu dir sagen?‘ Das hat mich dann schon biss­chen berührt. Meine Frau redet er mit ˛more‘, was Paschtu für ˛Mutter‘ ist, an. Und das war schon ein schönes Erlebnis.“, berichtet Herr Wende. Aus der Anfangs­zeit erzählt er ein weiteres prägendes Ereignis: Younis hatte einen Schub, psychi­sche Probleme, mitten in der Nacht, und obwohl Tag und Nacht eine Aufsicht in dieser Unter­kunft ist, bestand er darauf, zu uns zu kommen. Was für uns ein Zeichen war, dass er zu uns mehr Vertrauen hat, als zu der Einrich­tung.“

Frei von Stress­ma­chern

Aus Herrn Wendes‘ Erzäh­lungen klingen oft Unzu­frie­den­heit mit Younis‘ Unter­kunft und seiner Schule heraus. Laut Herrn Wendes verwalten die Sozi­al­päd­agogen die Kinder und Jugend­li­chen statt sie zu betreuen. Zudem gibt es büro­kra­ti­sche Hinder­nisse – vor allem bezüg­lich der Bildung.

Für Younis besteht Schul­pflicht. Er besucht die inter­na­tio­nale Schule, nimmt aber auch am regu­lären Unter­richt mit Gleich­alt­rigen teil. Trotz seiner sehr guten Deutsch­kennt­nisse versteht er kaum etwas, da ihm zum Teil das nötige Wissen fehlt. In Afgha­ni­stan konnte er nur die Talib­an­schule“ besu­chen, die ein sehr einsei­tiges Schul­pro­gramm lehrt. Fächer wie Physik, Biologie und Englisch sind neu für ihn. Es ist jedoch aufgrund der Schul­pflicht auch nicht möglich, dass er Privat­un­ter­richt von Herrn Wende erhält.

Die Unter­stüt­zung von Herrn Wende und seiner Familie ist ein großes Glück für Younis. Sie setzen sich nicht nur dafür ein, dass er den Haupt­schul­ab­schluss schafft und danach eine Lehre anfangen kann. Sie unter­stützen ebenso seine Hobbys Tennis und Kricket. In den Vereinen trifft er auch außer­halb der Schule auf Gleich­alt­rige, die seine Inter­essen teilen.

An Deutsch­land gefällt ihm, dass es keinen Krieg gibt – keine Stress­ma­cher“, wie er sagt. Seine Familie fehlt ihm sehr. Doch es hilft ihm, dass er mithilfe des Jugend­amtes eine zweite Familie gefunden hat, die ein offenes Ohr für seine Sorgen und Probleme hat. Auch nach der Voll­jäh­rig­keit möchte er weiterhin Zeit mit Herrn Wende und seiner Familie verbringen. Auch für Herrn Wende ist der Kontakt zu Younis eine Berei­che­rung. Für ihn ist klar: Ehrenamt lohnt sich.“


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