So erfolg­reich sind die Ganz­tags­schulen wirk­lich

Datum
30. März 2017
Autor*in
Anastasia Kourti
Thema
#djht17
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Seit dem großen PISA-Schock 2001 widmet sich die deut­sche Bildungs­po­litik dem Ausbau von Ganz­tags­schulen. Ob das Konzept in Deutsch­land wirk­lich Erfolg hat, zeigt der Bildungs­be­richt Ganz­tags­schule NRW. Die Präsen­ta­tion des Berichts auf dem 16. Kinder- und Jugend­hil­fetag beglei­tete Anastasia Kourti.

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Geht das Konzept Ganztagsschule auf? Der Bericht liefert Antworten. Foto: Anna Rakhmanko.

Ein lehr­rei­ches Desaster“. Mit dieser Schlag­zeile kommen­tierte die ZEIT am 6. Dezember 2001 die Veröf­fent­li­chung der inter­na­tio­nalen Bildungs­ver­gleichs­studie PISA. Leis­tungen der 15-jährigen Deutsch­lands entpuppten sich als unter­durch­schnitt­lich, die Ergeb­nisse scho­ckierten mit einer Risi­ko­gruppe von 25%, die nicht richtig lesen und schreiben kann. Zusätz­lich war die Verbin­dung zwischen sozialer Herkunft und Schul­leis­tung in keinem Land so eng wie in Deutsch­land. Vorhe­rige Zweifel an der PISA-Studie und der Mess­bar­keit von Bildung wurden nach der Veröf­fent­li­chung von einer zentralen Erkenntnis abge­löst: In der deut­schen Bildungs­po­litik besteht Hand­lungs­be­darf. Chancen- und Bildungs­gleich­heit sieht anders aus. Sieben Sofort­maß­nahmen wurden ange­kün­digt – darunter der Ausbau von Ganz­tags­schulen. Inspi­riert wurde diese Idee von PISA-Stars wie Finn­land, in denen das Ganz­tags­system fest etabliert ist. Die Tatsache, dass viele Länder mit lang­jäh­riger Tradi­tion von Ganz­tags­schulen ähnlich oder schlechter als Deutsch­land abschnitten, gehört jedoch zu den Argu­menten der Gegner des Konzepts. Sie werten den Ausbau der Ganz­tags­schule als eine intel­lek­tu­elle Notfall­plan, in den die Politik sich über­hastet und ohne konkreten Plan geworfen hat

Die poten­ti­ellen Möglich­keiten einer Ganz­tags­be­treuung

Unter­stützer und Unter­stüt­ze­rinnen der Ganz­tags­be­treuung haben hingegen vor allem die Vorteile im Blick. Allen voran das Argu­ment: Durch eine verrin­gerte Einfluss­nahme der Eltern soll die Chan­cen­gleich­heit in der Bildung erhöht werden. Durch die Vertei­lung des Unter­richts auf den Nach­mittag sei eine indi­vi­du­elle Förde­rung möglich, eine Haus­auf­ga­ben­be­treuung mit quali­fi­zierten Betreuern und Betreue­rinnen schaffe fairere Lern­mög­lich­keiten. Auch das Mittag­essen findet beim Ganztag in der Schule statt, sodass alle Schüler über gesunde Ernäh­rung infor­miert werden könnten. Schließ­lich sind lange nicht alle deut­schen Jugend­liche ein frisch gekochtes Mittag­essen gewohnt.

Zusätz­lich soll auch in der schwie­rigen Debatte rund um die Verein­bar­keit von Familie und Beruf ein Schritt in die rich­tige Rich­tung gemacht werden. Die Betreuung bis 17 Uhr könne vor allem allein­er­zie­hende Eltern­teile entlasten. Die verlän­gerten Schul­zeiten würden zusätz­lich dafür sorgen, dass zwischen dem Unter­richt entspannt werden könne und zu Hause kaum bis nur wenig Zeit für Haus­auf­gaben inves­tiert werden müsse. Dadurch können die Jugend­li­chen sich nach Schul­schluss auf Familie, Freunde und Erho­lung konzen­trieren.

Der Bildungs­be­richt liefert Zahlen und Fakten

Der Bildungs­be­richt Ganz­tags­schule NRW füttert die Pro-Kontra-Debatte rund um den Ganztag mit Zahlen. In mehreren Erhe­bungs­wellen wurden Eltern und Schüler und Schü­le­rinnen der Primär- und Sekun­dar­stufe I., also von der Grund­schule bis zur 9. Klasse, befragt. Durch­ge­führt wurde die Studie vom Institut für Soziale Arbeit in Münster. Im Fokus stand die subjek­tive Wahr­neh­mung von Frei­zeit und Schul­be­las­tung.

Insge­samt konnten sich die Ganz­tags­schulen einen guten Ruf machen. 81,7% der Eltern, deren Kinder die Sekun­där­stufe I. ganz­tags besu­chen, würden sich erneut für diese Schul­form entscheiden. Gene­rell deuten die Umfra­ge­er­geb­nisse, die auf subjek­tiven Einschät­zungen basieren, darauf hin, dass Gesamt- und Haupt­schulen das Ganz­tags­kon­zept besser gelingt als Gymna­sien und Real­schulen. Ramona Stein­hauer von der ISA Münster vermutet, dass dies darauf zurück­zu­führen sei, dass der Ganztag in den Gesamt­schulen schon länger etabliert ist. Diese können somit schon seit mehreren Jahren an ihrem Angebot arbeiten. Ferner ist natür­lich zu unter­su­chen, inwie­fern sich die subjek­tive Wahr­neh­mung von Belas­tung zwischen Gymna­si­asten und Gymna­si­as­tinnen und Haupt­schü­lern unter­scheidet.

Von einer Entlas­tung merken nur wenige etwas

Weiterhin konnte fest­ge­stellt werden, dass Ganz­tags­schüler und ‑schü­le­rinnen eher aussagen, ihre Frei­zeit auch tatsäch­lich frei nutzen zu können, als Halb­tags­schüler und ‑schü­le­rinnen. Aller­dings zeigt der Bericht der ISA Münster auch, an welchen Stellen die Idee der Ganz­tags­schule auf halber Strecke stecken geblieben ist. So gaben 16,1% der Ganz­tags­schüler und ‑schü­le­rinnen an, fast täglich noch Zuhause Zeit für die Haus­auf­gaben inves­tieren zu müssen. Mehr als jeder 6. Befragte bekommt somit von der ange­prie­senen Tren­nung von Lern- und Frei­zeit­raum wenig mit und kann die Zeit zu Hause nicht sorgen­frei genießen. Auch geben viele der Teil­neh­menden an, sich mehr unbe­auf­sich­tigte Räume zu wünschen, in denen sie ohne Einmi­schung von Erwach­senen Zeit mit ihren Mitschü­lern und Mischü­le­rinnen verbringen können.

Im Anschluss an die Zahlen nennt die ISA Münster eine Reihe von Hand­lungs­emp­feh­lungen, deren Umset­zung das Errei­chen der eigent­li­chen Ziele des Ganz­tags­kon­zeptes voran­treiben sollen. Dazu gehört eine Abwen­dung von der tradi­tio­nellen Kultur der Haus­auf­gaben sowie eine flexible Anpas­sung des Haus­auf­ga­ben­um­fangs. Mögli­cher­weise erreicht man so, dass nach Schul­schluss keine zusätz­li­chen Lern­phasen notwendig sind. Zusätz­lich sollte in den nächsten Jahren das Angebot an außer­un­ter­richt­li­chen Akti­vi­täten und unbe­ob­ach­teten Rück­zugs­orten erhöht werden und so der eigent­liche Sinn der Ganz­tags­be­treuung deut­lich gemacht werden: Eine indi­vi­du­elle Förde­rung der Schüler und keine sinn­lose Verlän­ge­rung des Schul­tags.

Möchte Deutsch­land den Ganztag über­haupt?

Neben der Frage nach der Beschaf­fung der nötigen finan­zi­ellen Mitteln, steht zusätz­lich offen, ob sich der Groß­teil der Deut­schen über­haupt über­zeugen lassen kann. Mehr als die Hälfte der Eltern von Grund­schü­lern und Grund­schü­le­rinnen, die sich gegen die Ganz­tags­schule entschieden, gaben als Grund an, ihre Kinder lieber selbst betreuen zu wollen. Diese Zahlen zeigen die prak­ti­schen Grenzen des Ausbaus von Ganz­tags­schulen auf. Möchten die Deut­schen über­haupt einen Teil ihres elter­li­chen Einflusses zugunsten der Bildungs­gleich­heit abgeben?


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