Seit dem großen PISA-Schock 2001 widmet sich die deutsche Bildungspolitik dem Ausbau von Ganztagsschulen. Ob das Konzept in Deutschland wirklich Erfolg hat, zeigt der Bildungsbericht Ganztagsschule NRW. Die Präsentation des Berichts auf dem 16. Kinder- und Jugendhilfetag begleitete Anastasia Kourti.
Geht das Konzept Ganztagsschule auf? Der Bericht liefert Antworten. Foto: Anna Rakhmanko.
Die potentiellen Möglichkeiten einer Ganztagsbetreuung
Unterstützer und Unterstützerinnen der Ganztagsbetreuung haben hingegen vor allem die Vorteile im Blick. Allen voran das Argument: Durch eine verringerte Einflussnahme der Eltern soll die Chancengleichheit in der Bildung erhöht werden. Durch die Verteilung des Unterrichts auf den Nachmittag sei eine individuelle Förderung möglich, eine Hausaufgabenbetreuung mit qualifizierten Betreuern und Betreuerinnen schaffe fairere Lernmöglichkeiten. Auch das Mittagessen findet beim Ganztag in der Schule statt, sodass alle Schüler über gesunde Ernährung informiert werden könnten. Schließlich sind lange nicht alle deutschen Jugendliche ein frisch gekochtes Mittagessen gewohnt.
Zusätzlich soll auch in der schwierigen Debatte rund um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ein Schritt in die richtige Richtung gemacht werden. Die Betreuung bis 17 Uhr könne vor allem alleinerziehende Elternteile entlasten. Die verlängerten Schulzeiten würden zusätzlich dafür sorgen, dass zwischen dem Unterricht entspannt werden könne und zu Hause kaum bis nur wenig Zeit für Hausaufgaben investiert werden müsse. Dadurch können die Jugendlichen sich nach Schulschluss auf Familie, Freunde und Erholung konzentrieren.
Der Bildungsbericht liefert Zahlen und Fakten
Der Bildungsbericht Ganztagsschule NRW füttert die Pro-Kontra-Debatte rund um den Ganztag mit Zahlen. In mehreren Erhebungswellen wurden Eltern und Schüler und Schülerinnen der Primär- und Sekundarstufe I., also von der Grundschule bis zur 9. Klasse, befragt. Durchgeführt wurde die Studie vom Institut für Soziale Arbeit in Münster. Im Fokus stand die subjektive Wahrnehmung von Freizeit und Schulbelastung.
Insgesamt konnten sich die Ganztagsschulen einen guten Ruf machen. 81,7% der Eltern, deren Kinder die Sekundärstufe I. ganztags besuchen, würden sich erneut für diese Schulform entscheiden. Generell deuten die Umfrageergebnisse, die auf subjektiven Einschätzungen basieren, darauf hin, dass Gesamt- und Hauptschulen das Ganztagskonzept besser gelingt als Gymnasien und Realschulen. Ramona Steinhauer von der ISA Münster vermutet, dass dies darauf zurückzuführen sei, dass der Ganztag in den Gesamtschulen schon länger etabliert ist. Diese können somit schon seit mehreren Jahren an ihrem Angebot arbeiten. Ferner ist natürlich zu untersuchen, inwiefern sich die subjektive Wahrnehmung von Belastung zwischen Gymnasiasten und Gymnasiastinnen und Hauptschülern unterscheidet.
Von einer Entlastung merken nur wenige etwas
Weiterhin konnte festgestellt werden, dass Ganztagsschüler und ‑schülerinnen eher aussagen, ihre Freizeit auch tatsächlich frei nutzen zu können, als Halbtagsschüler und ‑schülerinnen. Allerdings zeigt der Bericht der ISA Münster auch, an welchen Stellen die Idee der Ganztagsschule auf halber Strecke stecken geblieben ist. So gaben 16,1% der Ganztagsschüler und ‑schülerinnen an, fast täglich noch Zuhause Zeit für die Hausaufgaben investieren zu müssen. Mehr als jeder 6. Befragte bekommt somit von der angepriesenen Trennung von Lern- und Freizeitraum wenig mit und kann die Zeit zu Hause nicht sorgenfrei genießen. Auch geben viele der Teilnehmenden an, sich mehr unbeaufsichtigte Räume zu wünschen, in denen sie ohne Einmischung von Erwachsenen Zeit mit ihren Mitschülern und Mischülerinnen verbringen können.
Im Anschluss an die Zahlen nennt die ISA Münster eine Reihe von Handlungsempfehlungen, deren Umsetzung das Erreichen der eigentlichen Ziele des Ganztagskonzeptes vorantreiben sollen. Dazu gehört eine Abwendung von der traditionellen Kultur der Hausaufgaben sowie eine flexible Anpassung des Hausaufgabenumfangs. Möglicherweise erreicht man so, dass nach Schulschluss keine zusätzlichen Lernphasen notwendig sind. Zusätzlich sollte in den nächsten Jahren das Angebot an außerunterrichtlichen Aktivitäten und unbeobachteten Rückzugsorten erhöht werden und so der eigentliche Sinn der Ganztagsbetreuung deutlich gemacht werden: Eine individuelle Förderung der Schüler und keine sinnlose Verlängerung des Schultags.
Möchte Deutschland den Ganztag überhaupt?
Neben der Frage nach der Beschaffung der nötigen finanziellen Mitteln, steht zusätzlich offen, ob sich der Großteil der Deutschen überhaupt überzeugen lassen kann. Mehr als die Hälfte der Eltern von Grundschülern und Grundschülerinnen, die sich gegen die Ganztagsschule entschieden, gaben als Grund an, ihre Kinder lieber selbst betreuen zu wollen. Diese Zahlen zeigen die praktischen Grenzen des Ausbaus von Ganztagsschulen auf. Möchten die Deutschen überhaupt einen Teil ihres elterlichen Einflusses zugunsten der Bildungsgleichheit abgeben?
