Das größte Problem unserer Gesell­schaft ist der Rechts­po­pu­lismus und die Gefähr­dung unserer Demo­kratie

Datum
20. Juni 2018
Autor*in
Lennart Glaser
Thema
#religionsundkultursensibel 2018
Religionundkultur_Loheide_Anna Rakhmanko (10)

Religionundkultur_Loheide_Anna Rakhmanko (10)

… sagt Frau Loheide, Vorstand Sozi­al­po­litik der Diakonie Deutsch­land, uns in unserem Inter­view auf dem Fachtag #reli­gi­ons­und­kul­tur­sen­si­bi­lität in Berlin. Wie hängen eigent­lich Reli­gion, Enga­ge­ment und die Arbeit des großen Wohl­fahrts­ver­bands zusammen und welche Rolle spielt das Chris­tentum noch in der Gesell­schaft?

… sagt Maria Loheide, Vorstand Sozi­al­po­litik der Diakonie Deutsch­land, in unserem Inter­view auf dem Fachtag #reli­gi­ons­und­kul­tur­sen­sibel in Berlin. Wie hängen eigent­lich Reli­gion, Enga­ge­ment und die Arbeit des großen Wohl­fahrts­ver­bands zusammen und welche Rolle spielt das Chris­tentum noch in der Gesell­schaft?

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Zu Besuch bei Frau Loheide. Foto: Jugendpresse Deutschland / Anna Rakhmanko

Frau Loheide, wie privi­le­giert waren Sie in Ihrer Jugend?

Ich bin sicher­lich sehr behütet aufge­wachsen, auch sehr geför­dert worden als Kind, hatte immer die Sicher­heit, mit Geschwis­tern und Eltern aufzu­wachsen und habe alle Bildungs­chancen gehabt, die es gab.

Wären die Ange­bote der Diakonie im Bereich der Jugend­bil­dung, ‑hilfe und ‑förde­rung, inso­fern es sie denn gab, entspre­chend Möglich­keiten für Sie gewesen, die Sie wahr­ge­nommen hätten?

Ja, auf jeden Fall. Wenn es sowas gegeben hätte, dann wäre sicher­lich die Möglich­keit gewesen, dass ich davon auch profi­tiere. Ich habe auch von der kirch­li­chen Jugend­ar­beit profi­tiert, war lange Jahre Pfad­fin­derin. Das prägt, auch wenn man Funk­tionen und Verant­wor­tung über­nimmt. Wenn Sie das als ein Angebot sehen, die Kirche und Reli­gion bieten, konnte ich da schon parti­zi­pieren.

Wagen wir einen Blick nach Bayern: Minis­ter­prä­si­dent Söder erlässt ein Gesetz, wonach im Eingangs­be­reich öffent­li­cher Gebäude ein Kreuz hängen muss. Verfälscht die poli­ti­sche Instru­men­ta­li­sie­rung christ­li­cher Werte das Bild von Reli­gion in der Gesell­schaft?

Das sehen wir schon mit Sorge, nicht nur das Kreuz, das Söder jetzt in den Eingang öffent­li­cher Gebäude hängen will. Auch die AfD sieht sich im Zweifel als Vertei­di­gerin des christ­li­chen Abend­landes und will unsere Reli­gion und Kultur schützen. Das tun sie, meines Erach­tens, völlig eigen­nützig und entfremdet. Inso­fern wird das poli­tisch instru­men­ta­li­siert und nützt den wirk­lich gläu­bigen Menschen nicht.

Ist unsere Gesell­schaft über­haupt ohne christ­liche Werte zu denken?

Für mich persön­lich nicht. Erstmal ist das ganz indi­vi­duell: Ich kann mir keine Gesell­schaft vorstellen, in der nicht der Glaube und die Reli­gion eine Rolle spielen. Im Übrigen natür­lich nicht nur die evan­ge­li­sche oder katho­li­sche, sondern über­haupt, zu glauben und damit eine andere Veran­ke­rung in seinem eigenen Leben zu finden. Wir nehmen natür­lich deut­lich Tendenzen wahr, dass das nicht mehr durch­gängig für alle Menschen gilt, wie viel­leicht vor Jahren noch. Gerade hier in Berlin ist der Anteil derje­nigen, die über­haupt nicht glauben am Höchsten. Was man immer wieder fest­stellt, ist, dass dann durchaus im Leben von Menschen Situa­tionen entstehen, in denen sie quasi auf die Reli­gion zurück­ge­worfen werden, wo sie plötz­lich merken, dass etwas in ihrem Leben fehlt.

Ist inso­fern auch die Reli­gio­sität in der Jugend­ar­beit und ‑hilfe wichtig?

Der Glaube, das was wir vermit­teln in unserer Kinder- und Jugend­hilfe und Jugend­ar­beit, kann und ist meines Erach­tens ein wesent­li­cher Sozia­li­sa­ti­ons­faktor, der jungen Menschen eine Orien­tie­rung für ihr eigenes Leben geben kann. Inso­fern halte ich ihn für sehr wichtig, deswegen will ich aber nicht gleich­zeitig sagen, dass z.B. die Arbeit der Arbei­ter­wohl­fahrt nicht auch eine Orien­tie­rung geben kann. Wir sind durch unseren Glauben anders geerdet, ich halte die reli­giöse Sozia­li­sa­tion für junge Menschen für eine große Berei­che­rung.

Sie würden mir wohl also auch wider­spre­chen, wenn ich die waghal­sige These aufstellen würde, dass es sinn­voll wäre, einen Wohl­fahrts­ver­band zu haben, der unab­hängig von Staat und Kirche fungiert, vor allem, weil heut­zu­tage Jugend­liche einen viel gerin­geren Bezug zu Reli­gion haben?

Das ist ein biss­chen von hinten um die Ecke gedacht. Ich glaube, dass die Diakonie auf unserem evan­ge­li­schen Glauben basiert. Wie sagt man so schön? Das eine ist das Wort, das andere die Tat‘. Die Tat entspringt aus unserem Glauben. Inso­fern glaube ich auch, dass die konfes­sio­nell gebun­dene Wohl­fahrts­pflege nochmal mehr, als es mögli­cher­weise die Pari­tä­ti­schen oder die AWO tun können, vermit­telt, als nur den Dienst, die Hilfe und die Unter­stüt­zung. Sie vermit­telt mehr, gerade auch in Phasen, in denen Menschen in Krisen geraten. Das kann Schei­dung sein, das kann am Ende des Lebens sein. Das sind ja genau solche Situa­tionen, wo Menschen mehr noch nach dem Sinn fragen. Da haben wir natür­lich als christ­lich geprägte Wohl­fahrts­pflege enorm viel zu bieten. Deswegen halte ich es für sinn­voll, dass die evan­ge­li­sche Kirche ihre Diakonie hat und das natür­lich auch in ihrem Dienst an den Menschen zum Ausdruck bringen kann.

Waren das auch die Argu­mente, weshalb Sie zur Diakonie gefunden haben? Sie haben ja selbst nie Theo­logie studiert.

Das ist eigent­lich ganz inter­es­sant. Ich war sehr intensiv bei den Pfad­fin­dern. In der Zeit des Studiums habe ich aber eher weniger mit Kirche zu tun gehabt. Als ich mit dem Studium fertig war, habe ich mich eigent­lich nie bei der Kirche gesehen. Die kirch­li­chen und auch diako­ni­schen Struk­turen waren mir viel zu altba­cken, zu wenig modern, zu wenig inno­vativ. Ich habe das gar nicht bewusst ange­strebt, bei der Diakonie zu arbeiten. Dann kamen schon auch Situa­tionen und Bege­ben­heiten in meinem Leben, die durchaus auch kirch­lich geprägt waren, sodass ich letzt­end­lich doch bei der Diakonie gelandet bin. Das heißt, im Bewusst­sein sah ich mich viel mehr beim Pari­tä­ti­schen, wenn ich das mal so sagen darf (lacht). Ich habe sogar selber mal mit einer Freundin ein Konzept entwi­ckelt, für ein Angebot. Wir haben gedacht, wir werden selber eine Initia­tive und machen das alles einmal ganz anders, als diese tradi­tio­nellen, altba­ckenen Wohl­fahrts­ver­bände, vor allem der Kirchen.

Stützt das dann viel­leicht doch meine These von vorhin?

Nein, nein. Erstmal sind wir tatsäch­lich viel inno­va­tiver als weithin immer gedacht und gesagt wird. Das muss uns eigent­lich mehr anspornen, moti­vieren, eher zu schauen: Was müssen wir denn verän­dern? Deswegen bin ich bei der Diakonie und ich bin das jetzt bald seit 30 Jahren, weil für mich immer entschei­dend und wichtig war, dass wir uns für alle Entwick­lungen, Nöte und Heraus­for­de­rungen, die Menschen und unsere Gesell­schaft haben, öffnen. Als ich damals in der Diakonie anfing, gab es zum Beispiel schon eine ganz breite Eltern­in­itia­tive für die Schaf­fung von Kita­plätzen. Unter-drei-Betreuung gab’s über­haupt gar nicht. Ich habe meinen ersten Sohn am Ende des Studiums bekommen, ich war somit selber betroffen. Dann kamen Eltern auf die Diakonie zu und wollten gerne Unter­stüt­zung. Die Diakonie hat Betreuung für Unter-Drei­jäh­rige grundweg abge­lehnt. Das war jahre­lang, meines Erach­tens, ein fataler Fehler dieser Insti­tu­tion, sich für solche Entwick­lungen nicht zu öffnen und zu unter­stützen. Deswegen arbeite ich auch gerade sehr stark mit Start-Up-Unter­nehmen oder Initia­tiven, beispiels­weise sehr intensiv mit nebenan​.de, zusammen. Wir müssen uns genau diesen Entwick­lungen zuwenden und diese nicht nur ablehnen, sondern eher schauen: Wo können wir auch gemeinsam in Koope­ra­tion die Diakonie weiter­ent­wi­ckeln?

Ich habe Ihnen ein Zitat mitge­bracht, das von Ihnen aus dem Jahr 2011 stammt: Es kommt darauf an, evan­ge­li­sche Posi­tionen deut­lich zu vertreten und die Inter­essen der diako­ni­schen Träger nach­drück­lich einzu­bringen.“ Wenn ich Sie jetzt so erlebe, würde ich vermuten, dass Sie dieses Zitat sieben Jahre später immer noch genau so unter­schreiben würden?

Das würde ich ganz genau so noch unter­schreiben. Die Frage ist aber immer: Was sind denn die Inter­essen der Träger? Wir haben eine ganze Menge Entwick­lungen, die auch erfor­dern, dass Träger sich ändern. Die ganze Behin­der­ten­hilfe ist weg von den großen Insti­tu­tionen. Es wird immer Menschen mit Behin­de­rung geben, die in Einrich­tungen leben müssen. Aber dort neue Formen von Wohn­ge­mein­schaften, von ambu­lant betreuten Settings, auch für Schwerst­mehr­fach­be­hin­derte zu finden: Das sind Entwick­lungen, da müssen die Träger natür­lich auch mitma­chen, sich öffnen. Auch dafür setze ich mich ein: Einer­seits für die Rahmen­be­din­gungen, aber ande­rer­seits, dass unsere Träger sich öffnen und weiter­ent­wi­ckeln und fragen: Was wollen die Menschen?‘. Dabei ist es wichtig, immer vom Willen des Menschen auszu­gehen und nicht zu sagen: Wir wissen schon, was gut für euch ist!‘ Das kann nicht unsere Haltung sein, sondern wir müssen eher mit den Menschen schauen, wie sie eigent­lich leben wollen und wie wir das unter­stützen können.

Was ist denn Ihrer Meinung nach, sowohl persön­lich, als auch in Bezug auf Ihren Job, aktuell das größte Problem in der Gesell­schaft und wie gehen Sie es an?

Das größte Problem unserer Gesell­schaft ist der Rechts­po­pu­lismus und die Gefähr­dung unserer Demo­kratie. Mitt­ler­weile gibt es nur noch zwei Prozent der Länder, in denen wirk­lich abso­lute Meinungs­frei­heit und Versamm­lungs­frei­heit herrscht. Zwei Prozent der Länder auf der Welt – und wir gehören dazu. Ich finde, das kann man gar nicht hoch genug aner­kennen und schätzen. Wie labil das ist, merken wir aktuell durch den Rechts­ruck ganz deut­lich. Das macht mir Sorge. Wenn die AfD im Bundestag Anfragen stellt, wie viele Menschen behin­dert sind, weil es Inzucht in Migran­ten­fa­mi­lien gegeben hat oder wie viele Frauen der Menschen, die zu uns gewan­dert sind und ihre Fami­lien nach­holen, nach­kommen dürfen, die dann alle mögli­cher­weise Hartz IV beziehen könnten, dann wird da ein Menschen­bild trans­por­tiert, was ich ganz erschre­ckend finde. Da sind wir auch noch nicht ganz sprach­fähig in der Frage: Wie gehen wir mit denen um? Sie sehen sich ja gerne in der Opfer­rolle, das wollen wir natür­lich auch nicht stärken. Das ist eine ganz schwie­rige Situa­tion. Was tun wir dagegen? Wir haben seit diesem Jahr sechs neue Kolle­ginnen, die Demo­kra­tie­pro­jekte erar­beiten. Wir sind der einzige Bundes­ver­band, der tatsäch­lich direkt Mitar­bei­tende einge­stellt hat, die Schu­lungs­ma­te­ria­lien entwi­ckeln. Wir haben eine Ausstel­lung gemacht: Kunst trotz(t) Ausgren­zung. Wir machen Netz­werk­ar­beit und bieten Schu­lungen an. Als Bundes­ver­band versu­chen wir das dann auch in die Regionen zu bringen.

Erfüllt die Kirche dadurch auch ihre gesell­schaft­liche Verant­wor­tung?

Durch die Diakonie auf jeden Fall. Natür­lich hat die Kirche noch darüber hinaus eine andere gesell­schaft­liche Verant­wor­tung, die sie auch unmit­telbar als Kirche wahr­nehmen. Aber natür­lich ist die Diakonie die Tat, mit der die evan­ge­li­sche Kirche Verant­wor­tung in dieser Gesell­schaft über­nimmt.

Wie würden Sie diese Verant­wor­tung defi­nieren, welche Aufga­ben­felder sind damit gemeint?

Das eine, wofür ich mich auch sehr stark einsetze, ist die tätige Hilfe für notlei­dende Menschen: Für Menschen mit Behin­de­rung, für Alte, für Obdach­lose. Da wo wir Not sehen zu helfen, nicht erst zu fragen: Wie wird das finan­ziert? Das ist immer die Frage der Privaten. Wir sagen: Da ist Not, da müssen wir helfen. Darüber hinaus haben wir den Auftrag, dass wir die Bedin­gungen für das Leben der Menschen mitge­stalten müssen. Das heißt, wir haben einen poli­ti­schen Auftrag, der eben bedeutet, dass wir uns einsetzen müssen, dass alle Kinder die glei­chen Bildungs­chancen haben, dass demo­kra­ti­sche Prozesse und leben­dige Nach­bar­schaften gelebt werden, gerade im Bereich Bildung und Schaffen von Rahmen­be­din­gungen für Menschen in unserer Gesell­schaft.

Ist die Kirche durch die Diakonie ein Ort sozialer Gerech­tig­keit?

In unserer Lobby­ar­beit ist es ein zentrales Thema, dass wir uns perma­nent für soziale Gerech­tig­keit einsetzen. Das machen wir, wenn es um die Regel­satz­be­rech­nung in der Grund­si­che­rung von Kindern und Fami­lien geht. In unserer Lobby­ar­beit ist das quasi das Eigent­liche. Als Insti­tu­tion ist es natür­lich auch ein Anspruch an uns selber.

Inwie­fern ist die Diakonie an inter­na­tio­nalen huma­ni­tären Projekten betei­ligt oder gar vorrei­tend? Sind das nicht die eigent­li­chen Punkte, an denen es jetzt anzu­setzen gilt?

Ich war letzte Woche drei Tage auf der Mitglie­der­ver­samm­lung des euro­päi­schen Diako­nie­ver­bands in Polen. Da ist es wichtig, gerade in dieser Situa­tion, in der Europa immer rechts­kon­ser­va­tiver, popu­lis­ti­scher zu werden scheint, dass die Diakonie zusam­men­hält. Es war inter­es­sant, wahr­zu­nehmen, wie es in einem Land wie Polen plötz­lich schwierig wird, sich öffent­lich zu äußern. Sie sehen die Fahnen vor unserer Tür: Diakonie Kata­stro­phen­hilfe, Brot für die Welt und Diakonie Deutsch­land. Das heißt, wir unter­nehmen insti­tu­tio­nell die Zusam­men­füh­rung der inter­na­tio­nalen, euro­päi­schen und natio­nalen Sozi­al­po­litik, aber eben auch Hilfe und Unter­stüt­zung. Wir denken kaum mehr, das habe ich früher im Landes­ver­band anders gesehen, national. Bei den ganzen Fragen, die wir bear­beiten, Flucht und Migra­tion sowieso, geht es immer darum: Was sind die Flucht­ur­sa­chen, was kann man daran tun, wie kann man Zivil­ge­sell­schaft in den Ländern fördern und unter­stützen? Das tut Brot für die Welt mit einer Menge an Förder­mit­teln und Projekten. Wir haben eine Mitglie­der­ver­samm­lung, für die ich in hohem Maße inhalt­lich verant­wort­lich bin. Dieses Jahr wird das Schwer­punkt­thema dieser Mitglie­der­ver­samm­lung für Diakonie und Entwick­lung Demo­kratie und Zivil­ge­sell­schaft sein. Das schauen wir uns dann aus den drei Perspek­tiven an: inter­na­tional, euro­pä­isch und national.

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