Zwischen Social Media und Realität: Wie wir heute erin­nern 

Datum
13. Mai 2025
Autor*in
Lenja Vogt
Thema
#Erinnerungskultur
foto-artikel-lenja.jpg

foto-artikel-lenja.jpg

Ein kurzes Video, das an die Opfer des Natio­nal­so­zia­lismus erin­nert, gefolgt von Tanz­vi­deos, Memes und Werbung. Im digi­talen Zeit­alter stellt sich zuneh­mend die Frage, wie Erin­ne­rungs­kultur auf Social Media funk­tio­niert. Kann ein Insta­gram-Beitrag wirk­lich so bewegen wie der Besuch einer Gedenk­stätte?

Es ist der 8. Mai. Am Eingangstor der Mahn- und Gedenk­stätte Sach­sen­hausen prangt die natio­nal­so­zia­lis­ti­sche Inschrift Arbeit macht frei“, ein paar verwelkte Blumen hängen zwischen den eisernen Buch­staben. Auf dem riesigen, kahlen Gelände wehen die wenigen Bäume sanft im Wind, aus einem kleinen Laut­spre­cher ertönen leise die Namen der Opfer, die in dem Konzen­tra­ti­ons­lager ermordet wurden. Ansonsten ist es toten­still. 

foto artikel lenja

©Lenja Vogt

Zwischen 1936 und 1945 waren über 200.000 Menschen in dem Konzen­tra­ti­ons­lager inhaf­tiert. Als Modell- und Ausbil­dungs­lager in unmit­tel­barer Nähe zur Reichs­haupt­stadt nahm Sach­sen­hausen nicht nur eine symbo­li­sche Stel­lung ein, sondern fungierte auch als admi­nis­tra­tives Zentrum des gesamten KZ-Systems im Natio­nal­so­zia­lismus. 

Auch 80 Jahre nach der Befreiung zeugt der Ort noch von dem unvor­stell­baren Leid, das den Menschen hier wider­fahren ist. Wer durch die Gedenk­stätte geht, spürt die Vergan­gen­heit bei jedem Schritt. Doch gerade junge Menschen begegnen der Geschichte zunächst meist online – über Stories, Posts und Reels. Rund um den Jahrestag widmen sich zahl­reiche Beiträge auf Social Media der Aufar­bei­tung und Sicht­bar­ma­chung natio­nal­so­zia­lis­ti­scher Verbre­chen. Aber kann ein Insta­gram-Reel so berühren wie der Besuch einer Gedenk­stätte? 

Für die gesamte histo­risch-poli­ti­sche Bildungs­ar­beit ist vor allem eines wichtig: Empa­thie. Und Empa­thie kann auch über ein kurzes Reel auf Insta­gram oder ein langes Video auf YouTube erzeugt werden“, erklärt Prof. Dr. Johannes Tuchel, Leiter der Gedenk­stätte Deut­scher Wider­stand. Die Gedenk­stätte nutzt die Platt­formen seit einigen Jahren als Ergän­zung zu den herkömm­li­chen Methoden der histo­risch-poli­ti­schen Bildungs­ar­beit. Social Media könne zwar Anreize schaffen, sich mit der Geschichte ausein­an­der­zu­setzen, aber niemals die Arbeit von Gedenk­stätten und Museen ersetzen, betont Tuchel aller­dings. 

Ein histo­ri­scher Ort ist natür­lich deut­lich eindring­li­cher und berüh­render als es ein Video je sein kann – aber das ist auch gar nicht der Anspruch unserer Beiträge“, erklärt Till Strätz von der Mahn- und Gedenk­stätte in Sach­sen­hausen. Auch wenn Über­spit­zung und Emotio­na­li­sie­rung durch die Algo­rithmen der Platt­formen beson­ders gut funk­tio­nieren, sollen die Beiträge vor allem zum Nach­denken anregen und Inter­esse an einen Besuch wecken. Auf dem Insta­gram-Account der Gedenk­stätte sind neben kurzen Infor­ma­ti­ons­vi­deos deshalb auch Hinweise auf Veran­stal­tungen und Einblicke in die Arbeit hinter den Kulissen zu finden. 

Was früher Bücher, Schulen und Museen leis­teten, über­nehmen heute zuneh­mend Insta­gram, 
YouTube und TikTok. Vor allem jüngere Gene­ra­tionen nutzen soziale Medien längst nicht mehr nur zur Unter­hal­tung, sondern zuneh­mend auch als Haupt­in­for­ma­ti­ons­quelle. Zu diesem Ergebnis kommt auch eine Studie des Leib­nitz-Insti­tuts für Medi­en­for­schung. Gleich­zeitig steigt dadurch die Gefahr von Fake News und gezielter Desin­for­ma­tion sowie der Verzer­rung und Verein­nah­mung von rechts. Darum ist es umso wich­tiger, dass glaub­wür­dige Inhalte von vertrau­ens­wür­digen Insti­tu­tionen wie zum Beispiel Gedenk­stätten und Museen produ­ziert werden“, sagt Tobias Ebbrecht-Hart­mann. Als Dozent für Film­ge­schichte, deut­sche Kultur­ge­schichte und Erin­ne­rungs­kul­tur­ge­schichte an der Hebräi­schen Univer­sität in Jeru­salem forscht und publi­ziert er unter anderem zu digi­taler Erin­ne­rung an den Holo­caust. 

Die sozialen Netz­werke haben nicht nur das Wie’, sondern auch das Was’ der Gedenk­ar­beit grund­le­gend verän­dert. So erzeugen kurze Videos nicht nur Aufmerk­sam­keit für bestimmte Themen, sondern schaffen auch Raum für bislang unsicht­bare Perspek­tiven. Das führt dann auch dazu, dass andere Themen und Opfer­gruppen eine Rolle spielen. Mich errei­chen zum Beispiel immer wieder Fragen zu queeren Menschen im Natio­nal­so­zia­lismus“, berichtet Susanne Siegert. Die Akti­vistin hat auf ihrem Insta­gram-Account @keine.erinnerungskultur knapp 160.000 Follower:innen, auf TikTok sind es sogar 215.000. Um auf den Platt­formen nicht wie ein Fremd­körper zu wirken, sei es beson­ders wichtig, den jungen Menschen auf Augen­höhe zu begegnen und ihre Fragen ernst zu nehmen. Wenn man ein paar Kniffe beachtet – und die kann man sich auch gut vom Spaß-Content abschauen – dann funk­tio­niert Gedenk- und Erin­ne­rungs­kultur auch auf diesen Platt­formen“. 


Empfohlene Beiträge

Artikel

Erin­ne­rungs­orte in Berlin

Lotta Berendes-Pätz