Kein Mensch kann in 140 Zeichen argu­men­tieren“

Datum
30. August 2015
Autor*in
Dennis Beltchikov
Thema
#Vielfalt im Journalismus 2015
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Laut einer reprä­sen­ta­tiven Befra­gung der Bitcom rese­arch GmbH sind knapp 70 Prozent der Internetnutzer*innen in Deutsch­land in sozialen Netz­werken aktiv. Prof. Dr. Neuberger, Mitautor einer Studie der Landes­an­stalt für Medien Nord­rhein-West­falen und der Ludwig-Maxi­mi­lians-Univer­sität München, analy­siert die daraus für den Jour­na­lismus entste­henden Chancen und stellt Hinder­nisse, aber auch Berei­che­rungen fest.

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Journalismus und soziale Medien sind heutzutage eng aneinander gekoppelt. Foto: unsplash.com

Falsche Erwar­tungen

Einer der Autor*innen der Studie ist der Münchner Professor für Kommu­ni­ka­ti­ons­wis­sen­schaft Dr. Chris­toph Neuberger. Er sagt, das Internet habe die Erwar­tung geweckt, dass Viel­falt im Jour­na­lismus enorm zunehme. Denn die Kritik an den alten Medien, also Presse und Rund­funk, ist, dass nur wenige Akteure Zugang zur Öffent­lich­keit haben“, so der Kommu­ni­ka­ti­ons­wis­sen­schaftler. Tatsäch­lich seien 91 Prozent der befragten Redakteur*innen von der zuneh­menden Bedeu­tung von Social Media über­zeugt: Für Themen­ideen, Recher­che­ar­beiten oder Aktua­lität betref­fend, stellen Social Media eine unüber­biet­bare Platt­form dar, auf der viel­fäl­tige Meinungen gehört und inten­sive Diskus­sionen geführt werden könnten.

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Grafik: Caroline Ellenberger

Dies gilt aller­dings nicht für jedes soziale Medium: Face­book beispiels­weise diene eher als Bekennt­nis­organ, ohne aber, dass längere Diskus­sionen auf dieser Platt­form statt­finden würden. Gerade das sei das Problem des Jour­na­lismus in Bezug auf Social Media: Die große Schwäche ist, dass Social Media in Prozessen der öffent­li­chen Meinungs­bil­dung nur sehr beschränkte Möglich­keiten bieten.“ Am ehesten finde man eine gute Grund­lage für längere Diskus­sionen noch auf Blogs. Daran betei­ligen sich jedoch nur wenige Menschen: Wir erleben eine starke Frag­men­tie­rung, wie auch Pola­ri­sie­rung, da man in Blogs Gleich­ge­sinnte findet und damit wech­sel­sei­tige Bestä­ti­gung für Ansichten erhält, aber verschie­dene Meinungen nicht aufein­ander treffen. Konstruk­tive Diskus­sionen finden so nicht statt. Dafür braucht es andere Formate.“

Zwit­schern ist kein Disku­tieren

Für eine Echt­zeit-Inter­ak­tion mit dem Publikum und die Kontakt­auf­nahme zu Expert*innen oder Promi­nenz bietet sich dagegen Twitter an. Expert*innennetzwerke werden gepflegt und gerade zwischen Politikjournalist*innen und Politiker*innen ist Twitter ein häufig genutzter Kommu­ni­ka­ti­ons­raum, der aller­dings kaum für längere Diskus­sionen passe: Kein Mensch kann in 140 Zeichen argu­men­tieren. Twitter ist allen­falls geeignet, um seine Erre­gung, seine spon­tanen Reak­tionen in die Welt hinaus zu posaunen.“ Des Weiteren ermög­licht Social Media dem Jour­na­lismus eine direk­tere Leser*innenkommunikation, wodurch es mehr Reso­nanz­mög­lich­keiten gibt. Die Leser*innen werden jedoch nur von 16 Prozent der befragten Redaktionsleiter*innen als gleich­be­rech­tigte Mitschrei­bende ange­sehen. Neuberger begründet dies damit, dass Journalist*innen bereits seit dem 19. Jahr­hun­dert über ihr Rollen­ver­ständnis so sozia­li­siert worden seien, dass sie das Publikum nicht groß mitreden ließen. Auch Mathias Müller von Blumen­cron, Chef­re­dak­teur von faz​.net, gab im Gespräch mit dem Fach­jour­na­list zu: Wir Jour­na­listen müssen ein ganzes Stück weg von unserem auto­ri­tären Bewusst­sein und mehr Mode­ra­toren werden als nur Meinungs­dik­ta­toren.“

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Grafik: Caroline Ellenberger

Lear­ning by doing

Nach Neuberger erfülle das Expan­dieren des Jour­na­lismus in Social Media aber nicht die Hoff­nung, dass eine tech­ni­sche Erwei­te­rung auch eine inhalt­liche Stei­ge­rung bedeute. Ferner führe eine Viel­zahl von im Internet parti­zi­pie­renden Leser*innen nicht zwangs­läufig zu einer größeren Viel­falt von Meinungen. Außerdem macht das Internet die Verbrei­tung extre­mis­ti­scher Inhalte leichter: Poli­ti­sche Gruppen, wie rechts­extreme Verei­ni­gungen, die vorher schwerer Zugang zur Öffent­lich­keit erhielten, nutzen nun das Internet als Sprach­rohr. Damit erwei­tert sich die Meinungs­viel­falt nicht nur in erfreu­li­cher Weise.“ Über­dies nehme aber auch der redak­tio­nelle Aufwand durch Social Media erheb­lich zu, bestä­tigen 71 Prozent der Befragten. Zu Zeit- und Perso­nal­mangel käme hinzu, dass viele der Social-Media-Beauf­tragten ihre Kompe­tenz durch lear­ning by doing erhielten, berichtet faz​.net. Zudem wolle niemand für jour­na­lis­ti­sche Arbeit in Social Media zahlen. Kaufe ich eine Zeitung, dann habe ich ein Produkt in der Hand und zahle gerne dafür. Das ist beim Online-Jour­na­lismus und erst recht bei sozialen Medien nicht so“, so Neubauer. Konstruktiv genutzt böten sich dennoch Möglich­keiten zur Quali­täts­ver­bes­se­rung: Der Jour­na­lismus sollte das nehmen, was Twitter, Face­book und Co. gerade bieten. In einer Wunschwelt würden wir uns die Frage stellen: Wie müssten Inter­net­an­ge­bote aussehen, um den jour­na­lis­ti­schen Bedürf­nissen optimal gerecht zu werden? Bezüg­lich Parti­zi­pa­tion und Inter­ak­tion könnte ich mir da noch Schö­neres vorstellen.“ Ferner müssten Redakteur*innen ihre Vermitt­lungs­rolle reflek­tieren und stär­kere Mode­ra­ti­ons­po­si­tionen einnehmen. Um die Arbeit mit Social Media im Jour­na­lismus zu verbes­sern, empfiehlt die Studie orga­ni­sa­to­risch-redak­tio­nelle Infra­struk­turen auszu­bauen. So könnten zukünftig Mitarbeiter*innen speziell für Social Media geschult werden.


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