Ein XXL-Bundestag mit fadem Beigeschmack

Datum
28. September 2021
Autor*in
Julius Kölzer
Themen
#BTW21 #Politik
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Instagram Bild. Foto: von Barockschloss.

Der 20. Bundestag wird noch einmal größer als der letzte. Eine Wahl­rechts­re­form sollte genau das verhin­dern. Nun drohen im schlimmsten Falle sogar Neuwahlen. Julius Kölzer erklärt die Hinter­gründe. 

Bundestag

Der Bundestag der 20. Wahlperiode ist der größte Bundestag aller Zeiten. Foto: Jugendpresse Deutschland / Saad Yaghi

Deutsch­land hat gewählt. Ergebnis der Wahl ist nicht nur eine frag­men­tierte Partei­en­land­schaft mit unklarer Ausgangs­lage für die kommende Regie­rungs­bil­dung, sondern auch ein Bundestag, der nochmal größer wird: Mit 736 Sitzen ist er nun nach dem chine­si­schen Volks­kon­gress das zweit­größte Parla­ment der Welt. Wahlrechtsexpert*innen wie Joachim Behnke und Robert Vehr­kamp von der Bertels­mann-Stif­tung spre­chen bereits vom Phänomen eines aufge­blähten Bundes­tags“. Denn weder im alten Bundes­haus am Bonner Rhein­ufer noch im jetzigen Reichs­tags­ge­bäude am Platz der Repu­blik saßen jemals so viele Abge­ord­nete wie jetzt. 598 Abge­ord­nete sind norma­ler­weise vorge­sehen – 138 weniger als es in den nächsten vier Jahren sein werden. Dabei sollte die im Herbst 2020 verab­schie­dete Wahl­rechts­re­form der großen Koali­tion genau das verhin­dern. Die Ursa­chen hinter dem Phänomen des XXL-Bundes­tags sind zwar komplex, lassen sich jedoch auf drei zentrale Gründe zurück­führen.

Zwischen Über­hang- und Ausgleichs­man­daten

Anders als es die Begriffe Erst- und Zweit­stimme viel­leicht sugge­rieren, sind für die Sitz­ver­tei­lung und Kräf­te­ver­hält­nisse im Bundestag alleine die Zweit­stim­men­er­geb­nisse der Parteien rele­vant. Bei dieser Wahl kam es jedoch dazu, dass Parteien in einigen Bundes­län­dern mehr Direkt­man­date erhielten, als ihnen dort eigent­lich nach dem Zweit­stim­men­er­gebnis zustehen würden. Diese zusätz­li­chen Sitze, die soge­nannten Über­hang­man­date, müssen für die anderen Parteien ausge­gli­chen werden.

Der Ausgleich orien­tiert sich dabei an der Partei mit den meisten solcher Über­hang­man­date. Bei dieser Wahl ist das die CSU. Sie gewann 45 Direkt­man­date nach dem Zweit­stim­men­er­gebnis würden ihnen dort jedoch nur 34 Mandate zustehen. Daraus resul­tieren elf Über­hang­man­date. Die müssen entspre­chend ausge­gli­chen werden, damit die Anzahl an Abge­ord­neten aller Frak­tionen den Zweit­stimmen entspricht. Die Sitz­zahl des Bundes­tages wurde deshalb so lange durch Sitze für andere Parteien künst­lich vergrö­ßert, bis die 45 Mandate der CSU im Verhältnis mit den anderen Frak­tionen auch ihrem Zweit­stim­men­er­gebnis entspre­chen. Konkret bedeutet das für die Frak­tionen folgende Zahl an Ausgleichs­man­daten: SPD 26, CDU 17, Grüne 24, Linke 7, AfD 13 und FDP 16.

Kritik an der Wahl­rechts­re­form

Die ange­spro­chene Wahl­re­form der großen Koali­tion konnte den Aufwuchs von 138 Sitzen des Bundes­tages nicht verhin­dern. Bereits bei der letzten Wahl war der Bundestag mit 709 Sitzen deut­lich größer als vorge­sehen. Zwar wäre der Bundestag ohne die neu einge­führte Regel, dass künftig drei Über­hang­man­date nicht ausge­gli­chen werden, vermut­lich noch größer, doch wird der Bundestag so nicht ansatz­weise in die gewollte Nähe der vorge­se­henen Sitz­zahl von 598 gebracht“, so Wahl­rechts­for­scher Joachim Behnke. Durch die Reform wurden nur neun statt der elf CSU-Über­hang­man­date ausge­gli­chen, was den Bundestag entspre­chend kleiner gemacht hat. Behnke hatte bereits in einer Anhö­rung im Innen­aus­schuss des Bundes­tages bezwei­felt, dass die Reform ihr Ziel erreicht. Zudem stellt er fest, dass ein Wahl­recht, dass Parteien mit vielen Direkt­man­daten belohnt, vor allem im Inter­esse der Unions­par­teien sei.

Der Plenarsaal des Bundestages - Künftig müssen hier 735 Abgeordnete Platz finden (Foto Jens-Olaf Walter)

Der Plenarsaal des Bundestages - künftig müssen hier 736 Abgeordnete Platz finden. Foto: Jens-Olaf Walter / Flickr

Rele­vant seien deshalb auch die verfas­sungs­recht­li­chen Zweifel an der Reform. Schließ­lich könnte das Gesetz in den Grund­satz der Chan­cen­gleich­heit der Parteien eingreifen: Parteien, die jene drei unaus­ge­gli­chenen Über­hang­man­date erhalten, haben im Verhältnis zu den anderen Parteien unbe­gründet mehr Stimm­ge­wicht, was die Wahl­rechts­grund­sätze in Artikel 38 des Grund­ge­setzes verletzen könnte. Zudem könnte eine solche Verzer­rung dazu führen, dass die Sitz­an­teile der Parteien im Bundestag nicht ihren Zweit­stim­men­er­geb­nissen entspre­chen. Dass das im Zweifel sogar über Koali­ti­ons­op­tionen entscheiden kann, wurde Sonn­tag­abend bei den ersten Hoch­rech­nungen sichtbar: Die Union hatte zeit­weilig weniger Stimmen als die SPD, jedoch mehr Sitze im Bundestag, da nach der neuen Regel drei Über­hang­man­date der CSU bei anderen Parteien nicht ausge­gli­chen werden. Der Abstand zwischen Union und SPD vergrö­ßerte sich im Laufe des Abends zwar so sehr, dass dieser verzer­rende Effekt nicht mehr rele­vant ist, doch hätte die Reform bei einem etwas knap­peren Wahl­aus­gang über Gewinner*in und Verlierer*in entscheiden können – ohne dass das dem tatsäch­li­chen Wähler*innenwillen entspro­chen hätte. Das demo­kra­ti­sche Grund­prinzip der Volks­sou­ve­rä­nität, das die Staats­ge­walt vom Volke ausgeht, wäre so noch deut­li­cher verletzt worden als ohne hin.

Ebenso frag­würdig ist, dass nach der Reform die Erst­stimmen von Wählenden, die diese Über­hänge verur­sa­chen, unbe­gründet mehr Einfluss auf die Sitz­ver­hält­nisse im Bundestag haben als sons­tige Stimmen. Ein entspre­chender Eilan­trag der Oppo­si­ti­ons­frak­tionen gegen die Reform wurde zwar vom Bundes­ver­fas­sungs­ge­richt abge­lehnt, doch ist das Haupt­sa­che­ver­fahren noch ausste­hend. Bereits in den Ausfüh­rungen des Urteils ist zu erkennen, dass Karls­ruhe die genannten verfas­sungs­recht­li­chen Einwände ernst nimmt und sogar gege­be­nen­falls eine Neuwahl anordnen könnte.

Darüber hinaus berührt der neue XXL-Bundestag ganz grund­sätz­liche Fragen des parla­men­ta­ri­schen Betriebs: Die zusätz­li­chen Sitze bedeuten jähr­lich Mehr­kosten in Millio­nen­höhe, was die Gesamt­kosten des jähr­li­chen Parla­ments­be­triebs auf über eine Milli­arde Euro hebt. Unter einem größeren Parla­ment könnte auch die Funk­ti­ons­fä­hig­keit des Parla­ments­be­triebs mit seinen Frak­tionen und Ausschüssen leiden, wenn für viele Abge­ord­nete weder Bedarf noch Platz ist.

Wahl­kreis­ge­winner mit kleinen Mehr­heiten

Dass es ein verfas­sungs­kon­formes Wahl­recht braucht, das die Sitz­zahl des Bundes­tages effektiv begrenzt, meint auch Wahl­rechts­experte Joachim Behnke – obwohl die beschlos­sene Absen­kung der Wahl­kreis­zahl von 299 auf 280 zur Wahl 2025 schon in die rich­tige Rich­tung geht“. Alter­nativ könnte auch eine bessere Koor­di­na­tion der Parteien in den Wahl­kreisen zu einer Eindäm­mung von Über­hang­man­daten führen und damit zu einer klei­neren Sitz­zahl des Bundes­tages beitragen. Würden sich etwa SPD und Grüne in den bayri­schen Wahl­kreisen auf einen gemein­samen Kandi­daten einigen, könnten sie der CSU nicht wenige ihrer Direkt­man­date streitig machen und damit die Anzahl an auszu­glei­chenden Über­hang­man­daten redu­zieren. Das Direkt­mandat im Wahl­kreis wird nach rela­tiver Mehr­heit vergeben. Wo viele Parteien ähnlich stark sind, reichen am Ende wenige Stimmen für den Einzug in den Bundestag. Nach Meinung von Wahl­rechts­for­scher Behnke wäre das auch aus demo­kra­tie­theo­re­ti­scher Perspek­tive sinn­voll da so weniger nutz­lose Erst­stimmen auf aussichts­lose Kandi­daten verschwendet werden und Wahl­kreis­sieger mehr für ihren Sieg bräuchten als eine kleine rela­tive Mehr­heit”. Im Wahl­kreis Dresden II – Bautzen II etwa gewann der CDU-Kandidat Lars Rohwer mit grade einmal 18,6% der Stimmen. 

Ob ein aufge­blähter Bundestag, ein verzerrtes Kräf­te­ver­hältnis im Parla­ment oder Wahlkreisgewinner*innen mit 18,6% der Stimmen einer verfas­sungs­ge­mäßen Vorstel­lung eines fairen Wahl­rechts entspre­chen, liegt letzten Endes im Ermessen des Parla­ments selbst – und im Zwei­fels­falls des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts. Inwie­fern es in den nächsten Jahren tatsäch­lich zu einem neuen Wahl­recht kommt, könnte sich auch in den kommenden Koali­ti­ons­ver­hand­lungen entscheiden.


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