Diamor­phin­sta­tionen – Fluch oder Segen?

Datum
15. September 2020
Autor*in
Zita Hille
Themen
#allaboutdrugs 2021 #Leben
Mykenzie Johnson unsplash_neu2

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In zehn deut­schen Städten wird Drogen­ab­hän­gigen* kontrol­lierte und hygie­ni­sche Hero­in­an­wen­dung ange­boten. poli­ti­ko­range-Redak­teurin Zita Hille analy­siert, welche Vor- und Nach­teile diese Maßnahme mit sich bringt.

Ein kleines Glas­fläsch­chen mit goldenem, durch­stech­barem Verschluss – darin ein weißes, feines und beinahe unschein­bares Pulver. Auf der Flasche steht: Diaphin, 10.000 mg zur Herstel­lung einer Injek­ti­ons­lö­sung“. Benö­tigt werden: steriles Wasser, Spritzen und Nadeln. Mit Hilfe der Spritze werden 93 Milli­liter des Wassers in die Flasche gegeben. Zwei Minuten lang wird das Gemisch geschüt­telt, dann ist es fertig: Reines Heroin, bereit, um in die Venen gespritzt zu werden.

Die etwas andere Medizin“

Seit fast elf Jahren ist in Deutsch­land die Diamor­phin­be­hand­lung möglich. In eigens dafür bestehenden Praxen unter­stützen Sozialarbeiter*innen, medi­zi­ni­sche Fach­an­ge­stellte* und Ärzte*innen die Hero­in­ab­hän­gigen*. Doch schnell wird klar: Der Ansatz der Diamor­phi­n­am­bu­lanz ist ein anderer als der gängiger Entzugs­kli­niken. In soge­nannten Konsum­räumen können die Abhän­gigen kontrol­liert sowie mit sauberen Spritzen und Nadeln konsu­mieren. Denn das Problem ist: Auf der Straße ist oft nicht bekannt, woher der Stoff kommt und ob dieser oder das Besteck sauber sind. Bei der soge­nannten Medizin“ handelt es sich um 98,5‑prozentig reines Heroin, das – von der Kran­ken­kasse bezahlt – meist intra­venös, also mit Spritzen in die Venen geleitet wird. Dadurch gelangt es direkt ins Gehirn und kann laut den Sozi­al­ar­bei­te­rinnen Frede­rike Nien­haus und Daniela Schulz der Diamor­phin­praxis Patrida in Berlin unter­schied­liche Wirkungen erzielen: Ruhe, Entspan­nung, Schmerz­lin­de­rung, Vermin­de­rung von Trau­mata, aber auch psyche­de­li­sche Zustände des Glücks­rau­sches oder Entzugs­er­schei­nungen nach Abfla­chen der Wirkung.

Um Teil des Programms werden zu können, muss man* laut Betäu­bungs­mittel-Gesetz (BtMG) mindes­tens 23 Jahre alt sein und zwei erfolg­lose Behand­lungen nach­weisen können. Auch soll die Abhän­gig­keit bereits seit mindes­tens fünf Jahren bestehen.

Heroin ist eine der härtesten Drogen der Welt, sie ist illegal und macht schnell abhängig. Allein in Deutsch­land leiden circa zwischen 100.000 und 150.000 Menschen bei rund 80 Millionen Einwohner*innen an einer Hero­in­sucht, die Dunkel­ziffer liegt um einiges höher. Bekannte Fälle, wie Chris­tiane F. aus Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“, haben ein bestimmtes Bild von Hero­in­ab­hän­gig­keit in den Köpfen der Deut­schen erschaffen: Leute, die die Kontrolle über ihr Leben verloren haben, sich auf der Straße oder im Bahn­hofsklo einen Hit setzen und nach und nach an der Sucht verenden. Und nun sollen diese Menschen auch noch profes­sio­nell Heroin einge­flößt bekommen? Birgt das nicht eine Menge Risiken und kreiert ein falsches Bild von Medizin“?

Diamor­phin, der Weg ins ewige Unglück?

Einige Leute würden sagen: ja. Das ist auch verständ­lich. Immerhin gibt man Süch­tigen* das Mittel, das sie süchtig gemacht hat. Das, was ihren Körper auf Dauer zerstört, ihre Hirn­zellen löscht, ihren Lebens­fokus ändert, wie jede andere Sucht auch, bekommen die Abhän­gigen* dort medi­zi­nisch verab­reicht.

Jonathan Gonzales unsplash

Auf der Straße herrschen für Heroinkonsum meist nicht die hygienischsten Voraussetzungen. I Quelle: Jonathan Gonzales, Unsplash

Auch durch Diamor­phin gab es im Jahr 2018 zwei Drogen­tote. Recht wenig, wenn man von der Gesamt­an­zahl von 1276 ausgeht. Ande­rer­seits ist auch nicht bekannt, wo und wie das Diamor­phin ange­wendet wurde. Viel­leicht fand der Konsum außer­halb einer Praxis statt. Trotzdem ist es möglich, bei der Anwen­dung zu sterben.

Weiterhin kann auch die Ethik der Diamor­phin­praxen als frag­würdig ange­sehen werden. So steht zum Beispiel die Berliner Praxis Patrida klar hinter ihrer Philo­so­phie, auch nach dem offi­zi­ellen Verlassen“ der Praxis immer für die Patient*innen da zu sein und sie aufzu­nehmen, falls sie rück­fällig werden.

An sich ist das wichtig und nett – wenn die Tür für Schwerst­ab­hän­gige* jedoch immer offen steht“, können sie ihren Willen, die Krank­heit zu heilen, ja gar nicht stärken – die Versu­chung, einfach zurück­zu­kommen, ist zu groß, die psychi­sche Stärke, zu wider­stehen, zu schwach. Man braucht norma­ler­weise lange, viel­leicht ein Leben lang, um von einer solch ausge­prägten Sucht loszu­kommen – kann das der rich­tige Weg sein?

Das Denken ändern

Tatsäch­lich muss man jedoch das Ziel der Diamor­phi­n­am­bu­lanzen bedenken: Sie werben nicht damit, dass Menschen, die als Süch­tige* in die Praxen kommen, als Geheilte*“ wieder hinaus­gehen. Ihr Ziel ist es nicht, Kranke von ihrer Sucht zu befreien oder sie zu thera­pieren. Viel­mehr muss der pädago­gi­sche Gedanke dahinter verstanden werden: Die meisten Menschen mit einer Hero­in­sucht kommen statis­tisch gesehen nicht mehr von dieser weg. Sie probieren es, schei­tern, werden rück­fällig, probieren es wieder, schei­tern erneut – ein ewiger Kreis­lauf der Frus­tra­tion. Auf der Straße braucht man für die Beschaf­fung von Heroin pro Tag circa 100 Euro. Dieses Geld legal zu beschaffen, stellt für viele Betrof­fene eine Heraus­for­de­rung dar. Wo hier die Risiken liegen, ist offen­sicht­lich: Die Fixie­rung auf den Stoff wächst. Ein normales, gere­geltes Leben ist da gar nicht möglich. Diamor­phin­praxen sollen genau hier helfen: Menschen ohne wirk­liche Perspek­tive bekommen die reine Medizin“, um ihre Sucht zu stillen, kurzum: Sie haben die Möglich­keit zu arbeiten, ihren Tag zu regeln und neben den maximal drei Tages­ter­minen in der Praxis Job, Privat­leben und Hobbies zu orga­ni­sieren – mit dem selbst verdienten Geld, das nicht für die Drogen drauf­gehen muss.

National Cancer Institute unsplash

Diamorphin wird unter Anderem aus tasmanischem Schlafmohn gewonnen - ist es die neue Bio-Droge? I Quelle: National Cancer Institute, Unsplash

Die scheinbar beste Lösung

Die Behand­lung soll also die beste“ der Lösungen sein und das Problem nicht wegschaffen. Das Über­wa­chen der Anwen­dung und die Anwe­sen­heit kompe­tenter Helfer*innen vor Ort, die eingreifen können, falls etwas passiert, fördert die Sicher­heit im ganzen Prozess. Das bedeutet auch: Weniger Krimi­na­lität und weniger Drogen­tote. Städte ohne Diamor­phin­sta­tionen oder ähnliche Konsum­ein­rich­tungen haben im Vergleich eine höhere Anzahl an Drogen­toten – allen voran Städte in Bayern. In ganz Deutsch­land waren es 2018 175 Hero­in­tote von 1276 Drogen­toten.

Laut den Sozi­al­ar­bei­te­rinnen Daniela Schulz und Frede­rike Nien­haus können sie als Mitarbeiter*innen der Diamor­phin­praxis, auch eine persön­liche Bezie­hung zu den Patient*innen aufbauen. Oft erzählen diese von privaten Problemen und haben so jemanden zum Reden. Auch von weiteren Drogen, die sie neben Heroin konsu­mieren, können sie dem Fach­per­sonal berichten, sodass Neben­wir­kungen ausge­schlossen werden können und die genaue Dosis des Diamor­phins indi­vi­duell ange­passt werden kann.

Menschen, die wirk­lich keinen Weg mehr aus ihrer Sucht heraus finden, können nicht geheilt werden. Aber, man kann ihnen trotz trotz der Sucht eine Perspek­tive bieten. Die Wenigsten kommen von der Sucht weg, aber ein paar Erfolgs­ge­schichten von Menschen, die es durch die Diamor­phin­be­hand­lung neben ihrer Sucht schaffen, eine Familie und eine Karriere aufzu­bauen, gibt es. Und das spendet Hoff­nung.


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