Alle an die Arbeit – nur wie?

Datum
25. November 2014
Autor*in
Lisa Pausch
Thema
#EINEWELT Zukunftsforum 2014
Zukunftscharta16

Zukunftscharta16

Andrea Nahles appeliert (Foto: Johannes Herbel)

Über­stunden, frist­lose Kündi­gung, Kinder­ar­beit oder fehlende Schutz­klei­dung – wenn es um Arbeits­be­din­gungen geht, werden beson­ders häufig Gering­qua­li­fi­zierte ausge­beutet. Mit jedem billigen T‑Shirt unter­stützen wir diese Praxis. Die Forde­rung nach menschen­wür­diger Arbeit kommt mit Andrea Nahles auf die Bühne – und mit der Zukunfts­charta auf den Tisch.

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"Jeder soziale Fortschritt fing mit einem ehrgeizigen Ziel an" - Andreas Nahles (Foto: Johannes Herbel)

Das mit der Würde

Eine menschen­wür­dige Arbeit wird durch Selbst­be­stim­mung möglich. Dazu gehören die Möglich­keit für Bildung, für ange­mes­sene Arbeits­plätze mit entspre­chenden sozialen Stan­dards und auch ange­mes­senen Löhnen“, schreibt Prof. Dr. Gerhard Präto­rius, der Leiter der Unter­neh­me­ri­schen Verant­wor­tung bei der Volks­wagen AG im Katalog der Zukunfts­charta.

Was sich nach konkreten Forde­rungen anhört, sind im Grunde alte Flos­keln, die mindes­tens seit Bestehen der Inter­na­tio­nalen Arbeits­or­ga­ni­sa­tion ILO – also seit knapp 100 Jahren – durch diverse Partei­pro­gramme schwirren. Arbeit darf keine Ware sein. Die ILO beur­teilt ein faires Einkommen als einen Schritt auf dem Weg zu Frei­heit, Gerech­tig­keit, Sicher­heit und mensch­li­cher Würde.

Das dritte Kapitel der Zukunfts­charta schmückt bunte Bilder mit Forde­rungen für mehr soziale und ökolo­gi­sche Stan­dards welt­weit, Menschen­rechte, Umwelt­ge­setze“ und inter­na­tio­nale Arbeits­normen“, weiter Geschlech­ter­ge­rech­tig­keit, Kinder­rechte“, aber auch höhere Wert­schät­zung der Sorge- und Pfle­ge­ar­beit“ insbe­son­dere Frauen gegen­über. Auch Anre­gungen zur Umset­zung gibt es dazu. So etwa der Hinweis, Länder mit nied­rigem und mitt­lerem Einkommen bräuchten vermehrte Inves­ti­tionen (…)“. Deutsch­land solle als Akteur eigene Erfah­rungen einbringen, etwa mit der sozialen und ökolo­gi­schen Mart­wirt­schaft, einem starken Mittel­stand, Genos­sen­schaften, beruf­li­cher Bildung und einem regel­ba­sierten offenen Handel“.

Be- oder entlohnt – was bedeutet Wert­schät­zung?

Wie muss menschen­wür­dige Arbeit bezahlt werden? Arbeit muss sich doch lohnen! – ganz und gar unbe­fangen geht mir das gelbes Licht der Libe­ra­lität auf. Kann man in einer globa­li­sierten Arbeits­welt mit bestehenden Abhän­gig­keits­struk­turen allein durch faire“ Bezah­lung sich einer Gleich­heit annä­hern, oder gefährdet schon allein die Fremd­be­stim­mung bei Entloh­nung durch auslän­di­sche Firmen mit eigenen Arbeits­auf­lagen die Selbst­be­stimmt­heit?

Adidas gibt stolz auf seiner Home­page an, sich bereits seit 2002 mit jenem Thema ausein­an­der­zu­setzen. Genauer: mithilfe ange­passter Lohn­zah­lungen ein Einkommen zu ermög­li­chen, das mindes­tens den Lebens­un­ter­halt decken sowie ein Mindestmaß an erspartem Vermögen ermög­li­chen sollen“. Es braucht mehr, um erst zu Ersparnis und in der Folge zu eigenen Inves­ti­tionen, Inno­va­tionen, dem Aufbau einer eigenen Wirt­schaft und so zur Unab­hän­gig­keit zu kommen. Für die Unter­nehmen muss der wirt­schaft­liche Anreiz da sein, nach­haltig zu handeln. Norma­ler­weise schaffen Konsu­men­tInnen das Angebot durch Nach­frage. Adidas vertei­digt seine Stra­tegie: Mit stei­genden Löhnen geht aber auch der wirt­schaft­liche Druck einher, güns­ti­gere Bezugs­quellen in Ländern mit nied­ri­gerem Lohn­ni­veau suchen zu müssen.“

Andrea Nahles blickt zuver­sicht­lich auf das Jahr der Entwick­lung 2015

Bundes­ar­beits­mi­nis­terin Andrea Nahles (SPD) spricht in der Poli­ti­k­arena beim Zukunfts­forum eupho­risch und mit dem Hinweis auf ihre vier­jäh­rige Tochter sicht­lich emotional über den deut­schen Anteil zur Umset­zung von fairer Arbeit welt­weit. Jeder soziale Fort­schritt fing mit einem ehrgei­zigen Ziel an“ – so möchte Nahles zusammen mit Gerd Müller die Zukunfts­ent­würfe für die Zeit bis 2030 ener­gisch angehen.

Es gibt in der Charta keine konkreten Zahlen zu weiteren Zielen. Nahles weist auf bishe­rige Erfolge hin: In den Schwel­len­län­dern habe man die Forde­rung nach einem Anteil von 20 Prozent für erwerbs­tä­tige Frauen erfüllt und der Mindest­lohn stehe in den Start­lö­chern. Seit Oktober steht das von Entwick­lungs­mi­nister Müller initi­ierte Textil­bündnis für verbes­serte soziale Stan­dards, doch ausge­rechnet die großen Marken – wie zum Beispiel Adidas – sitzen nicht mit im Boot. Gerade dieser Beitrag der Wirt­schaft“ sei aber eine wich­tige Voraus­set­zung. Unter­nehmen müssten die Verant­wor­tung für jedes einzelne Glied der Liefer­kette über­nehmen“. Nahles freut sich über den internen Konsens mit der Oppo­si­tion zum Thema Nach­hal­tig­keits­po­litik. Wir müssten von unserem Reichtum, unserem Wissen abgeben, folgert Müller später in einem Inter­view. Die Bundes­re­gie­rung als Zukunfts­werk­statt mit Genie­strei­chen?

Entwick­lung in den eigenen Reihen

Beginnt menschen­wür­dige Arbeit nicht auch in Deutsch­land?, über­lege ich. In der Zeit ohne verbind­li­chen Mindest­lohn plagen sich Arbeit­neh­me­rInnen unbe­zahlt in Prak­tika ab. Streiks wie kürz­lich bei der Bahn bringen die Wut über Dumping-Löhne auf die Straße. Deutsch­land soll wett­be­werbs­fähig bleiben – ein Argu­ment, dass auch in der auslän­di­schen Textil­pro­duk­tion ange­bracht wird. Mit der Einfüh­rung des Mindest­lohns passiert ein kleines Stück deut­sche Entwick­lung.

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Christian Osterhaus (Foto: Johannes Herbel)

Es braucht hier noch mehr. Etwa Arbeits­rechte auch für Menschen ohne Papiere“, fordert Chris­tian Oster­haus von Don Bosco Mondo in einer der Talk­runden auf dem Zukunfts­forum. Arbeit sei nicht nur dafür da, dem Menschen seine Grund­be­dürf­nisse zu befrie­digen, sondern die soziale Teil­habe in Gestalt jener oft zitierten Selbst­er­fül­lung“ zu ermög­li­chen. Dazu ist die Teil­habe an der Wert­schöp­fung“ ein zentraler Punkt. Heißt: über seine Tätig­keit hinaus sollen Beschäf­tigte teil­haben an dem, was sie durch ihre Hände zu einem Wert bringen. Was bedeutet die nach­hal­tige Produk­tion einer Firma, wenn sie selbst kein Betriebsrat hat? Welch Para­doxon“, bemerkt Oster­haus. Die Entwick­lung zu mehr Gerech­tig­keit muss eine gemein­same sein, keine nach­ho­lende nur auf Seiten der Entwickl­ung­länder.

Offene Fragen

Ich erin­nere mich an die boli­via­ni­schen Kinder­ar­beiter, die Ende letzten Jahres auf die Straße gingen, um für ihre Arbeit zu protes­tieren. Sie forderten gesetz­liche Rege­lungen anstatt Krimi­na­li­sie­rung. Die Jungen und Mädchen unter­stützen mit ihrem Lohn oft ihre Familie und bezahlen Schul­geld. Ich nutze die Gele­gen­heit und frage im Plenum nach: Können west­liche Stan­dards ohne weiteres auf andere Kulturen ange­wendet werden, ganz ohne die kultu­rellen Hinter­gründe und Bedürf­nisse zu beachten? Nahles antwortet: Wenn ihre Arbeit verboten wird, müsste der Lohn ihrer Eltern steigen, alles andere wäre verlogen“.

Das Problem liegt beim Konsu­ment, bei jedem von uns“, wirft ein junger Mann in die Diskus­si­ons­runde ein und erntet schlei­chenden Applaus. Die Maßnahmen zu inter­na­tio­nalen Arbeits­stan­dards seien nur ein Versuch, das Grund­pro­blem zu flicken“. Ein Medi­ziner über­legt, wie eine Unfall­ver­si­che­rung geschaffen werden kann, wenn die medi­zi­ni­sche Ausstat­tung für eine Durch­füh­rung nicht ausreicht. Was macht eine bangla­de­si­sche Gewerk­schafts­ver­tre­terin, wenn sie nicht frei reden kann?, bemerkt ein auslän­di­scher Gast. Nach 30 Minuten Diskus­sion ist klar: am Thema Arbeit muss noch gear­beitet werden.


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