Wie aufge­klärt ist Deutsch­land?

Datum
26. Juli 2020
Autor*in
Lukas Hinz
Themen
#spurensuchemenschlichkeit 2020 #Gen Z
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Foto: Feliphe Schiarolli und Jose Pablo Garcia / unsplash.com

Immer mehr Abschluss-Schüler*innen aus meinem Freun­des­kreis beklagen, dass im Biolo­gie­un­ter­richt Themen wie Geschlechts­ver­kehr, sexu­elle Viel­falt und LGBTIQ* gar nicht oder nur sehr kurz und schwammig ange­tastet werden. Wie ist das in den einzelnen Bundes­län­dern und was sind Gründe für diese gering ausge­prägte sexu­elle Aufklä­rung, fragt sich poli­ti­ko­range-Redak­teur Lukas Hinz.

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Ist Deutschland wirklich so aufgeklärt, wie es scheint? Quelle: Jose-Paplo Garcia und Feliphe Schiarolli/ unplash

Wo gibt es denn umfas­sende Aufklä­rung?

Einer der Vorreiter in Sachen sexu­eller Aufklä­rung im Grund­schul­alter, in Bezug auf LGBTQI* Themen ist Berlin, hier wird ab der dritten Klasse Homo­se­xua­lität und die Entste­hung von Kindern thema­ti­siert. Die Platt­form NetMoms berichtet, dass dies in Form eines Medi­en­kof­fers passiert, der in vielen Kirchen und Verbänden kriti­siert wurde. Eine Studie der Platt­form Fern­arzt kriti­siert, dass die Aufklä­rung an Berliner Schulen trotzdem ein Thema sei, das zu wenig behan­delt wird. Auch in Hessen steht laut dem Hessi­schen Kultus­mi­nis­te­rium das Thema Sexu­al­erzie­hung auf dem Lehr­plan für Schüler*innen der dritten und vierten Klassen. Dazu gehört auch die Akzep­tanz von Lesben, Schwulen, Bise­xu­ellen, trans-und inter­se­xu­ellen Menschen (LSBTI), Sexu­elle Viel­falt und Coming Out“. Schluss­licht bilden laut der Doku­men­ta­tion Sexu­elle Viel­falt und Sexu­al­erzie­hung in den Lehr­plänen der Bundes­länder“ der wissen­schaft­li­chen Dienste des Bundes­tages, die Länder Bayern, Nieder­sachsen und Nord­rhein-West­falen (NRW). In NRW werden Schulen aktuell keine gesetz­li­chen Vorgaben gemacht, sondern ledig­lich eine Richt­linie.

Ich fragte deshalb bei Yvonne Gebauer, Minis­terin für Schule und Bildung des Landes Nord­rhein-West­falen nach, weshalb es keinerlei gesetz­liche Vorgaben gibt und ob sich dies in naher Zukunft ändern wird. Die Antwort ihrer Pres­se­ver­tre­tung:

Bereits im Jahre 1994 hat eine Ände­rung des Schul­ord­nungs­ge­setzes mit breiter poli­ti­scher Mehr­heit verfügt, dass Schule die Aufgabe hat, Schü­le­rinnen und Schüler alters­gemäß nicht nur mit den biolo­gi­schen, sondern auch mit den ethi­schen, sozialen und kultu­rellen Fragen der Sexua­lität vertraut zu machen. Das Thema Sexu­al­erzie­hung ist in Nord­rhein-West­falen unter § 33 des Schul­ge­setzes gere­gelt. Darüber hinaus sind Vorgaben des Minis­te­riums für Schule und Bildung zur Sexu­al­erzie­hung im Unter­richt in Form von Richt­li­nien für die Sexu­al­erzie­hung fest­ge­halten.

Das Thema Hetero- und Homo­se­xua­lität“ ist im Kapitel 5.4 (Sexu­elle Orien­tie­rung und Iden­tität) dieser Richt­li­nien fest veran­kert. In dem Kapitel heißt es unter anderem: In der Ausein­an­der­set­zung mit unter­schied­li­chen sexu­ellen Lebens­weisen besteht die Chance, die eigene Sexua­lität zu reflek­tieren, die eigene sexu­elle Iden­tität zu finden und bewusst dazu zu stehen. In der Sexu­al­wis­sen­schaft besteht Konsens darüber, dass sich mensch­liche Sexua­lität auf viel­fäl­tige Weise ausdrü­cken kann. Demnach sind Hetero‑, Bi‑, Homo- und Trans­se­xua­lität Ausdrucks­formen von Sexua­lität, die, ohne Unter­schiede im Wert, zur Persön­lich­keit des betref­fenden Menschen gehören […].“

Mir wurde versi­chert, dass das gesamte Kapitel 5 der Richt­li­nien zur Sexu­al­erzie­hung für alle Schulen verbind­lich sei.

Die schu­li­sche Sexu­al­erzie­hung in Nord­rhein-West­falen ist fächer­über­grei­fend ange­legt und hat das Ziel, junge Menschen darin zu unter­stützen, in Fragen der Sexua­lität eigene Wert­vor­stel­lungen zu entwi­ckeln und sie zu einem selbst­be­stimmten und selbst­be­wussten Umgang mit der eigenen Sexua­lität zu befä­higen. Darüber hinaus sollen Schü­le­rinnen und Schüler für einen verant­wor­tungs­vollen Umgang mit der Part­nerin oder dem Partner sensi­bi­li­siert und auf ihre gleich­be­rech­tigte Rolle in Ehe, Familie und anderen Part­ner­schaften vorbe­reitet werden.“, so hieß es weiter­ge­hend aus dem Schul­mi­nis­te­rium Nord­rhein-West­falen.

In Baden-Würt­tem­berg dagegen versucht man die Schüler*innen schon im Grund­schul­alter aktiv bei der Entwick­lung in Bezug auf die Entwick­lung der sexu­ellen Iden­tität und ‑Orien­tie­rung zu unter­stützen.

Bremen, Berlin, Bran­den­burg und Meck­len­burg-Vorpom­mern schneiden das Thema in ihren Grund­schul­klassen. In Hamburg, Rhein­land-Pfalz, Sachsen und im Saar­land wird Sexu­elle Viel­falt und Homo­se­xua­lität kaum thema­ti­siert. In Thüringen versuchten die Grünen, den Umgang mit Homo­se­xua­lität in den Lehr­plänen zu veran­kern. Dies lehnten jedoch CDU, SPD und FDP ab, so die Doku­men­ta­tion des Bundes­tages. Trotzdem ist es weiterhin Ziel in Schulen über LGBTIQ*-Themen zu spre­chen, so sieht es das Thüringer Landes­pro­gramm für Akzep­tanz und Viel­falt vor. Die Bundes­länder Nieder­sachsen und Schleswig-Holstein nehmen im Doku­ment des Bundes­tages keinen Bezug zu diesem Thema.

Ich komme selbst aus Nieder­sachsen und habe das Gefühl – zumin­dest an den Schulen, die ich besucht habe – unzu­rei­chend aufge­klärt worden zu sein. Über LGBTIQ* Themen wurde, wie ich finde, zu wenig gespro­chen und pran­gere deshalb an, dass zu wenig Zeit inves­tiert wird, die Schüler*innen ausrei­chend aufzu­klären und mit ihnen sexu­elle Viel­falt zu beleuchten.

Auch im Bezug auf sexuell-über­trag­bare Krank­heiten ist man, laut einer Studie des Portals Fern­arzt besser dran, wenn man im Saar­land, in Hessen oder in Sachsen wohnt oder dort zur Schule geht.

Die Studie befasst sich damit, in welchem Umfang auf den Lehr­plänen der allge­mein­bil­denden Schulen über sexuell-über­trag­bare Krank­heiten aufge­klärt wird. Am schlech­testen schneiden laut Studie die Bundes­länder Nieder­sachsen, Hamburg und Bremen ab.

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Sexualbildung an deutschen Schulen nach Bundesländern. Quelle: Fernarzt STI-Report

Nord­rhein-West­falen und Thüringen liegen im Mittel­feld. Die Studie bezeichnet den Umfang der Inhalte als häufig mangel­haft“ und stellt klar, dass nur in sieben von 16 Bundes­län­dern – neben HIV/​Aids – noch über weitere Krank­heiten, die im Geschlechts­ver­kehr über­tragen werden können, gespro­chen wird.

Warum wird an Schulen so wenig aufge­klärt?

Es gibt viele Gründe, warum an Schulen zu wenig aufge­klärt wird. Einer davon sei zum Beispiel, dass viele Lehrer*innen unge­nü­gend vorbe­reitet sind, um Schüler*innen aufzu­klären, so Professor Uwe Sielert (CAU Kiel) in einem Inter­view mit Deutsch­land­funk Kultur.

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Doch wie sieht es mit Inhalten der sexuellen Aufklärung an Unis und Hochschulen aus? Quelle: Gaëtan Werp/ unsplash

Herr Prof. Sielert sagt dazu: Meine letzte Infor­ma­tion war von NRW zum Beispiel, dass bei den elf Lehrer-ausbil­denden Hoch­schulen insge­samt in einem Semester nur 15 Veran­stal­tungen ange­boten werden, die tatsäch­lich Sexu­al­erzie­hung in der Schule in didak­ti­schem Sinne hilf­reich für die Lehr­kräfte anbieten.“ Sielert beton weiter, dass dies ange­sichts der Masse an auszu­bil­denden Lehr­kräften, nur ein Tropfen auf den heißen Stein sei: Also beim Thema Inklu­sion haben die Landes­par­la­mente mehr­heit­lich beschlossen, dass das ein Pflicht­thema für die Lehrer­aus­bil­dung werden muss. Aber zur Sexu­al­erzie­hung ist das noch nicht passiert.“

Im Inter­view gab Sielert aber eben­falls zu verstehen, dass 75% von befragten Lehr­kräften an Grund­schulen in Schleswig-Holstein sagten, dass Kinder bereits im Grund­schul­alter durch Medien und Eltern infor­miert seien.

Deutsch­land hat in Sachen sexu­elle Aufklä­rung“ an Schulen noch großen Nach­hol­be­darf . Doch ich bin mir sicher: In einer Zeit, in der wir immer mehr auf Diskri­mi­nie­rung, Gender equa­lity und Diver­sität achten, wird das sicher­lich zeitnah verbes­sert.


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