Sie fragt. Er fragt.

Datum
06. Dezember 2017
Autor*in
Ina Brechenmacher
Thema
#YMA17

Von Wahl­pla­katen über die Bericht­erstat­tung bei Wahl­par­ties bis zu den Diskus­sionen der Wahl­er­geb­nisse: Ina Brechen­ma­cher und Zakarya Ibrahem haben die Bundes­tags­wahl davor, während­dessen und danach miter­lebt. Jetzt unter­halten sie sich – über Demo­kratie, Frei­heit und Wählen. Ina war schon fünf Mal wählen, Zakarya noch nie. 

Ina: Zakarya, wann hast du in Syrien das erste Mal gemerkt, dass du nicht frei bist?

Zakarya: Als die Krise in Syrien ange­fangen hat, habe ich etwas auf Face­book gepostet. Ich habe geschrieben, dass sich die Regie­rung und die Oppo­si­tion zusam­men­setzen sollten, um eine Lösung zu finden. Aber niemand hat auf mich gehört. Im Gegen­teil: beide Seiten haben mich kriti­siert. Danach wollten sie mich verhaften. Vorher war mir nicht so klar, dass ich nicht frei bin.

Ina: Aber warum ist dir das nicht schon vor der Revo­lu­tion aufge­fallen?

Zakarya: Darüber habe ich nicht wirk­lich nach­ge­dacht und ich habe auch nicht gefragt. Ich dachte, dass das normal sei. Und ich habe es akzep­tiert.

Ina: Fühlst du dich denn in Europa frei?

Zakarya: Im Großen und Ganzen fühle ich mich frei. Aber es gibt natür­lich gesell­schaft­liche Konven­tionen, an die ich mich halten muss.

Ina: Und wie sieht es mit der poli­ti­schen Situa­tion aus?

Zakarya: Hier darf ich meine Meinung sagen. Egal welche Meinung man hat, Leute respek­tieren dich. Die Parteien respek­tieren einander. In Deutsch­land kann jede Person sogar eine Partei gründen. Schau dir nur die Bundes­tags­wahlen an. Es gab unglaub­lich viele Parteien: zum Beispiel die Tier­schutz-Partei oder die Marxis­tisch-Leni­nis­ti­sche Partei. Das ist groß­artig.

Ina: Wie sieht denn die Situa­tion in Syrien aus?

Zakarya: Wenn ich in Syrien eine Partei gründen wollte, könnte ich das nicht, weil niemand mich unter­stützen und die Regie­rung mir das nicht erlauben würde. Offi­ziell gibt es eine Oppo­si­tion. Prak­tisch gibt es aber nur eine Partei. Die Baath-Partei. Ein Erlebnis beschreibt die Situa­tion ganz gut. Einmal kam kurz vor dem Schul­ab­schluss ein Mann aus meinem Dorf in meine Klasse. Er forderte uns alle auf, Mitglied in Assads Partei, der Baath-Partei, zu werden. Das würde uns helfen, mehr Punkte in der Abschluss­prü­fung zu bekommen. Die ganze Klasse hat das gemacht.

Ina: Du auch?

Zakarya: Ich auch. Ich wollte eben­falls mehr Punkte haben.

Ina: Warst du dann über­haupt schon einmal wählen?

Zakarya: Nein. Man kann zwar wählen gehen, aber alle wissen schon vorher, wer gewinnt. Denn die Leute, die am Wahltag wählen, tun dies, weil sie beispiels­weise vorher ein biss­chen Geld, Öl oder Reis von Kandi­da­tinnen und Kandi­daten bekommen haben. Es steht nur auf dem Papier, dass Syrien eine Demo­kratie ist. Ich bin ein biss­chen eifer­süchtig auf die Demo­kratie in Deutsch­land. Das wünsche ich meinem Land auch. Ich will auch wählen.

Ina: Also findest du, dass die Demo­kratie in Deutsch­land funk­tio­niert?

Zakarya: Es gibt kein perfektes Land. Aber wenn die Leute zufrieden sind, dann funk­tio­niert sie. Man könnte es besser machen, wenn wir zusam­men­ar­beiten. In Syrien sagen wir, eine Hand klatscht nicht ohne die andere.

Zakarya: Bist du denn zufrieden mit dem poli­ti­schen System in Deutsch­land?

Ina: Ich finde es total schwierig, dir jetzt zu antworten. Nachdem ich mehr über das System in Syrien erfahren habe, fühlt es sich an, als würde ich mich auf einem sehr hohen Niveau beschweren. Weißt du, was ich meine? Ich würde mir wünschen, dass sich viel mehr verän­dert. Es war mir zum Beispiel schon lange klar, dass Angela Merkel wieder­ge­wählt wird. Die Nach­teile sind versteckt. Und sie sind nicht so offen­sicht­lich wie Verbote. Das verhin­dert, glaube ich, dass Menschen aktiv werden.

Zakarya: Hast du dann mit Blick auf die Wahl­er­geb­nisse keine Angst, dass sich Deutsch­land zu einer Diktatur entwi­ckeln könnte?

Ina: So viel Vertrauen habe ich dann doch in das deut­sche System, dass das verhin­dert werden kann. Nach der Zeit des Natio­nal­so­zia­lismus wurde das poli­ti­sche System so gebaut, dass das so schnell nicht mehr passieren kann.

Zakarya: Das ist der Unter­schied. Wir vertrauen unserer Regie­rung nicht. Aber hier vertrauen die Menschen der Regie­rung. Wie erklärst du dir dann die oft nied­rige Wahl­be­tei­li­gung in Deutsch­land?

Ina: Ich glaube, viele denken, dass sie keinen Einfluss haben. Sie leben in Stabi­lität und sie wissen, dass sich nicht viel daran verän­dern wird.

Zakarya: Es ist komisch: In Syrien gehen wir nicht wählen, weil wir die Ergeb­nisse kennen. Hier gehen sie nicht, weil sich nichts verän­dert.

Das syri­sche Parla­ment: In das syri­sche Parla­ment, dem Madschlis asch-Scha‘ab (auf Deutsch Volksrat, A.d.R.), werden alle vier Jahre 250 Abge­ord­nete gewählt. Die Mehr­heit der Sitze ist laut Verfas­sung für die Partei vorge­sehen, die die Inter­essen der Arbei­ter­klasse“ vertritt. In Syrien gibt es dafür – im Gegen­satz zu Deutsch­land – ledig­lich eine reine Perso­nen­wahl. Außerdem findet die Wahl des Präsi­denten alle sieben Jahre und damit nicht parallel zur Wahl des Parla­ments statt. Während dafür früher jeweils ein Kreuz bei Ja oder Nein ohne Gegen­kan­di­datin oder ‑kandidat gemacht wurde, ist laut der letzten Verfas­sungs­än­de­rung eine Entschei­dung zwischen verschie­denen Kandidat*innen notwendig. Jede Person, die über 18 Jahre alt ist, die syri­sche Staats­bür­ger­schaft besitzt und der das Wahl­recht nicht aberkannt wurde, darf an diesen Wahlen teil­nehmen. Das passive Wahl­alter liegt dagegen bei 25 Jahren. Zurzeit domi­niert die Natio­nale Progres­sive Front, ein Bündnis aus der Baath-Partei mit Block­par­teien, das syri­sche Parla­ment. De facto herrscht in Syrien damit ein Einpar­tei­en­system, da die Block­par­teien von der Baath-Partei abhängig sind, weil diese die Mehr­heit in der Natio­nalen Progres­siven Front bildet. Poli­ti­sche Unter­drü­ckung und Gewalt sind die Mittel, um den Macht­er­halt auch weiterhin durch­zu­setzen.


Dieser Artikel wurde im Rahmen der Yalla Media Akademie” gemeinsam von Ina Brechen­ma­cher und Zakarya Ibrahem verfasst. Hier lernen Nach­wuchs­jour­na­lis­tinnen und ‑jour­na­listen, den Redak­ti­ons­alltag kennen und Artikel zu schreiben. Auf Arabisch erscheint dieser Artikel bei Eed Be Eed.


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