Opa geht online

Datum
30. Mai 2015
Autor*in
Jan Nölke
Thema
#JMWS15
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Er surft, spielt und spricht mit seinem Tablet. Mein 85-jähriger Opa sitzt in seinem Sessel und nutzt die Gunst der Stunde, um einen Video­anruf bei seiner Enkelin in Frank­reich zu tätigen. Während ihn die Tablet-Assis­tentin Siri“ verbindet, blinkt die Werbe­an­zeige einer Phar­ma­firma auf. Ab sofort in Ihrer Apotheke: Tabletten gegen Vergess­lich­keit.“

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Foto: stevepb, CC0/Public Domain

Vergess­lich­keit im digi­talen Zeit­alter? Für meinen Opa beinahe ein Fremd­wort. Wich­tige Arzt­ter­mine notiert er selbst­ver­ständ­lich in seinem digi­talen Kalender, vergleicht im Internet Spar­an­ge­bote für Hörge­räte, macht sich von wich­tigen Regis­ter­karten schnell ein Bild­schirm­foto und spei­chert sie ab. Die noch intakten Gehirn­zellen werden durch den kleinen Computer enorm unter­stützt.

Doch unbe­merkt bleiben seine Besuche im digi­talen Netz nicht. So wirbt die Phar­ma­firma bereits seit geräu­miger Zeit ener­gisch für ihre Tabletten, in kleinen Werbe­fens­tern bieten ihm Versi­che­rungen ihre Dienste an und ein auf das Geschäft mit Senio­ren­reisen spezia­li­sierter Anbieter lockt mit attrak­tiven Kondi­tionen. Das Sprach­rohr Internet kommu­ni­ziert sein Nutzungs­ver­halten an Unter­nehmen ohne von den ahnungs­losen Nutzern je die Einwil­li­gung zu diesem Daten­transfer erhalten zu haben.

Demo­kratie 2.0: Kommt der digi­tale Bundestag?

Aller­dings ist mein Groß­vater nicht der einzige digi­tale Online-Opa“. Beinahe unglaub­würdig klingt die Aussage, dass im Jahr 2014 jeder dritte Deut­sche im Alter von 65 bis 74 Jahren das Internet und die Vorzüge der digi­talen Welt genutzt hat. Doch scho­ckieren Schlag­zeilen zu mangelnden Schutz­be­stim­mungen, Sicher­heits­soft­wares oder Daten­miss­brauch nicht mehr? Nahezu alltäg­lich sind doch die Exper­ten­war­nungen über Risiken der dauer­haften Erreich­bar­keit durch soziale Medien“ und des konti­nu­ier­li­chen Infor­ma­ti­ons­flusses“ geworden – und werden einfach igno­riert. In der Realität entwi­ckeln sich die in der Fach­sprache als Digital Natives“ bezeich­neten Benutzer mit ihrem scheinbar gekonnten Inter­net­um­gang zu naiven Opfern der Online-Welt. Als Folge dessen bemerkt man die konti­nu­ier­liche Anpas­sung unseres Lebens­um­feldes an das Internet.

So gehören mitt­ler­weile auch deut­sche Poli­tiker zu den Digital Natives“. Während sich die Bundes­kanz­lerin Angela Merkel einen Face­book-Account einge­richtet hat, um über soziale Medien ihre Wähler­gruppen zu errei­chen, twit­tert Regie­rungs­spre­cher Steffen Seibert regel­mäßig die wich­tigsten Neuig­keiten aus dem Bundestag. Die deut­sche Demo­kratie befindet sich in einem Assi­mi­la­ti­ons­pro­zess, um im Zuge der Digi­ta­li­sie­rung den Anschluss an die Bevöl­ke­rung und deren wandelndes Nutzungs­ver­halten nicht zu verlieren.

Ob sich die Demo­kratie der Zukunft irgend­wann voll­ständig im Internet abspielen wird? Umgeben von Wählern, Werbung und Warnungen? Man weiß es nicht. Doch wenn die Zahl von Online-Opas“, Online-Poli­ti­kern“ und Online-Bürgern“ steigt, könnte der Bundestag als heutiger Treff­punkt bald digi­talen Platt­formen weichen und – über­spitzt gesagt – zu einem Museum der Vergan­gen­heits­de­mo­kratie umfunk­tio­niert werden.

Was der Autor zuletzt gepostet hat und welche digi­talen Trends er im Jour­na­lismus beob­achtet, könnt ihr hier auf mitmi​schen​.de nach­lesen.


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