Jung und naiv

Datum
01. Juni 2015
Autor*in
Annkathrin Lindert
Thema
#JMWS15
Jungundnaiv_Joy-Donath_jugendfotos.de_CC-BY_3-0_1

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Ich bin ein gläserner Mensch. Ein offenes Buch, dem die sieben Siegel fehlen. Das Pass­wort meiner Gedanken ist leicht zu knacken. Du weißt mit einem Klick, auf welche Festi­vals ich gehe und dass ich über #varou­fake gelacht habe. Und ich weiß das auch.

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Willkommen im sozialen Netzwerk - Privatsphäre ade? (Foto: Joy Donath, jugendfotos.de, CC-BY 3.0)

Ich weiß, dass ich naiv bin – meine weiße Weste ist schon lange face­book­blau. Meine Daten prosti­tu­ieren sich auf Face­book, WhatsApp und Tinder. Edward Snowden hätte mir die Augen öffnen sollen, statt­dessen habe ich mich bei Insta­gram ange­meldet. Meine Zeit online ist auch nach dem NSA-Skandal gleich geblieben. Und ich bin nicht allein.

Wir alle wissen, wie es um unsere Daten bestellt ist. Laut einer DIVSI-Studie kennen 80 Prozent der Deut­schen Edward Snowden. Nur 23 Prozent aller deut­schen User haben ihr Verhalten nach den NSA-Enthül­lungen umge­stellt. Sich online über den Hashtag #Daten­miss­brauch zu echauf­fieren – das bringt nichts. Ein Shit­s­torm auf Twitter über Twitter, das ist so, als würden wir im Pries­ter­ge­wand ins Weih­was­ser­be­cken spucken. Wir sind nicht naiv, weil wir nicht merken, dass wir von Face­book und Co. um unsere Privat­sphäre betrogen werden. Wir sind naiv, weil wir davon wissen und uns trotzdem einloggen.

Als meine kleine Schwester vier Jahre alt war, musste meine Mutter ihr jeden Abend am Bett die Hand halten. Heute über­nehmen Dagibee und Ytitty das Händ­chen­halten. Meine Schwester ist jetzt 13 und kann ohne ihre“ YouTube-Stars nicht einschlafen. Ich brauche vor dem Einschlafen noch ein Stück Realität“, ist ihre Begrün­dung. Verkehrte Welt. Eine halbe Stunde später scrolle ich kurz vorm Einschlafen durch meinen Face­book-Feed. Ertappt. Warum können wir nicht loslassen? Warum ziehen uns Fotos von der letzten Party immer wieder an? Warum akzep­tieren wir mit einem Klick Cookies“, obwohl wir danach noch Wochen von weißen Snea­kern, mega günstig!“ verfolgt werden? Psycho­logen würden unser Verhalten viel­leicht als Sucht bezeichnen, als Krank­heit. Aber so einfach ist das nicht.

Warten auf die wahre Revo­lu­tion

Wir sind nicht nur Digital Natives, wir sind auch eine Gene­ra­tion der endlosen Möglich­keiten: Vor unserer Zeit sind viele Mauern einge­rissen worden. Auf der Straße und in den Köpfen. Wir laufen als mündige Bürger durch eine Welt voller Chancen. Nur im Internet, da verschließen wir die Augen. Dabei ist gerade das die größte aller Chancen. Zum ersten Mal in der Geschichte spielen Zeit, Raum oder Herkunft keine Rolle; als User sind wir alle gleich. Das dürfen wir uns von Google oder Face­book nicht kaputt­ma­chen lassen. Den Daten­fi­schern im Netz nicht ins Netz zu gehen – das ist die Kunst. Es ist Zeit, die rosa­rote Brille abzu­nehmen: Die wahre digi­tale Revo­lu­tion kommt erst noch.

Und ja, wir sind zu kleinen Däum­lingen geworden. Der Teil unseres Gehirns, der unseren Daumen koor­di­niert, ist tatsäch­lich viel ausge­prägter als bei älteren Gene­ra­tionen. Aber das ist nicht verwerf­lich. Die Tastatur ist die neue Klaviatur. Und wir die Solisten in der Urauf­füh­rung des Inter­nets. Jetzt kommt es darauf an, was wir aus diesem Konzert machen.


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