Brenn­punkt­schulen – im Stich gelas­sene Kinder?

Datum
15. Januar 2025
Autor*in
Karlina Li
Thema
#Leben
Ein heruntergekommenes Klassenzimmer. Wir sehen Stühle und im Hintergrund ist ein Poster von der Pinnwand gefallen.

Ein heruntergekommenes Klassenzimmer. Wir sehen Stühle und im Hintergrund ist ein Poster von der Pinnwand gefallen.

Der Zustand einer Schule prägt die Lernatmosphäre der Schüler*innen; Brennpunktschulen haben einen besonders unbedeckten Bedarf an finanzieller Unterstützung und Förderung. Foto: Feliphe Schiarolli/unsplash
Für einige ist die Schule ein Zufluchtsort – für Melina und viele andere Kinder an Brenn­punkt­schulen war sie das Gegen­teil. Heute erzählt sie von Unge­rech­tig­keiten, die oft unbe­nannt und unbe­kannt bleiben.

Für einige ist die Schule ein Zufluchtsort – für Melina und viele andere Kinder an Brenn­punkt­schulen war sie das Gegen­teil. Als junges Mädchen floh sie nach Deutsch­land, heute erzählt sie von Unge­rech­tig­keiten, die oft unbe­nannt und unbe­kannt bleiben.

Ein schwüler Sommertag 2014. Mit nassen Haaren kommt Melanie vom Schul-Schwimm­un­ter­richt zurück, doch ihr Schul­ranzen, den sie im Klas­sen­raum abge­stellt hatte, ist verschwunden. Panisch läuft sie durch die Grund­schule. Sonne durch­flutet die Gänge, der Schulhof und sein Spiel­platz alt und etwas herun­ter­ge­kommen. Sie findet ihren Ranzen ausge­leert im Müll­eimer auf der Schul­toi­lette – ohne Stifte und Mappen. Der Geruch von der stin­kenden und beschä­digten Toilette steigt ihr in die Nase.

Melina floh mit vier Jahren mit ihrer Familie nach Deutsch­land und besuchte fortan eine Grund­schule in einem sozialen Brenn­punkt. So bezeichnet man Wohn­viertel, in denen beson­ders viele Menschen in relativ armen und sozial benach­tei­ligten Verhält­nissen leben. Diese Orte sind oft geprägt von vielen auslän­di­schen Fami­lien, einer hohen Bevöl­ke­rungs­dichte und unzu­rei­chender Infra­struktur. Der Begriff sozialer Brenn­punkt“ steht in der Kritik, weil er nur die nega­tiven Aspekte dieser Wohn­ge­biete beleuchtet und die Menschen dort stig­ma­ti­siert, während die posi­tiven Seiten, wie ein Klima der Gemein­schaft und die große kultu­relle Viel­falt, verschwiegen werden.

Krimi­na­lität und Gewalt

Kinder und Jugend­liche aus Brenn­punkt­vier­teln und ‑schulen sind von benach­tei­li­genden Lebens- und Bildungs­chancen betroffen, zum Beispiel durch ihren tägli­chen Kontakt mit Krimi­na­lität und Rassismus in der Schule.

Sie erzählen im Nach­hinein, dass Gang­bil­dungen, Pausen­prü­ge­leien und Feuer­alarm an der Tages­ord­nung standen und das Lernen schwer­wie­gend behin­derten. Eine reprä­sen­ta­tive Umfrage der Robert Bosch Stif­tung ergab, dass es laut fast jeder zweiten Lehr­kraft (47 Prozent) ein Problem mit psychi­scher oder physi­scher Gewalt unter Schüler*innen gäbe, insbe­son­dere in sozial benach­tei­ligten Lagen (69 Prozent). Ein Drittel der Lehrer*innen berich­tete, dass sie eine hohe emotio­nale Erschöp­fung jede Woche, manche sogar jeden Tag verspüren. Die treffe vor allem auf jüngere, weib­liche Lehr­kräfte und Grundschullehrer*innen zu.

Melina kommt aufge­löst zu spät zum nächsten Fach und wird von ihrem Lehrer geta­delt. Sie kann sich nicht vertei­digen, da sie gerade erst Deutsch lernt. Zum Glück eilen Freun­dinnen ihr zur Hilfe.

Soziale Ausgren­zung und fehlende Schu­lungen

Nicht jedes Kind findet Anschluss wie Melina. Es kommt vor, dass Kinder sowohl von Lehrer*innen als auch von Mitschüler*innen diskri­mi­niert werden, wenn sie sich zum Beispiel schu­lisch anstrengen und gute Leis­tungen erzielen möchten. Von ihrer Peer­group werden Kinder mit guten Noten teils als Streber“ sozial ausge­grenzt, weil sie sich dem vorwie­genden Lebens­stil des Quar­tiers nicht zuge­hörig fühlen, während sie von Lehr­kräften oft aufgrund von mangelndem Verständnis und fehlender Schu­lung weniger oder inef­fektiv geför­dert werden.

Inter­na­tional vergli­chen, besu­chen deut­sche Lehrer*innen deut­lich weniger Fort­bil­dungen zu pädago­gi­schen Kompe­tenzen; die erwei­terte Schu­lung liegt bei 23 Prozent im Vergleich zu 73 Prozent inter­na­tional. Dabei fordere das Verhalten der Schüler*innen und der hete­ro­genen Klassen die Lehrer*innen laut eigenen Angaben am meisten heraus, denn Kinder mit Flucht- und Krisen­er­fah­rungen oder mit Behin­de­rungen benö­tigen eine entspre­chende Unter­stüt­zung. Außerdem bemän­geln Lehr­kräfte in der Studie, dass sie kaum Rück­mel­dung zur eigenen Arbeit erhalten, was eine Verbes­se­rung eines adäquaten pädago­gi­schen Umgangs weiter erschwert.

Melina geht mit hung­rigem Magen nach Hause, weil die erste Gruppe der Nach­mit­tags­be­treuung das warme Essen aufge­gessen hat. Es gibt nicht genug für alle. Auf dem Nach­hau­seweg, an der Bahn­hal­te­stelle, wird sie von Jungen aus höheren Klassen beläs­tigt. Sie rufen ihr zu. Sie äffen sie nach und kommen ihr und dem leeren Ranzen zu nah. Als ihre Eltern fragen, wie ihr Tag war, fällt es ihr schwer, davon zu erzählen. Sie bezwei­felt, dass sie ihr wirk­lich helfen könnten.

Chan­cen­gleich­heit drin­gend nötig

Es ist längst wissen­schaft­lich bewiesen, dass Chan­cen­ge­rech­tig­keit – abge­sehen vom Aspekt der (gene­ra­tio­nen­über­grei­fende) Armut – aufgrund eines anderen sozialen und kultu­rellen Habitus einge­schränkt wird, das heißt aufgrund des Eltern­hauses und einem benach­tei­ligten sozialen Netz­werk. Zum Beispiel können sich Eltern, die sich mit dem deut­schen Bildungs­system auskennen, die deut­sche Sprache gut beherr­schen und sich mit der Nach­bar­schaft bzw. Schul­ge­mein­schaft verstehen, viel eher für die Förder­mög­lich­keiten ihres Kindes einsetzen, während kürz­lich migrierte Fami­lien von solchen Infor­ma­tionen keinen Wind bekommen, geschweige denn im Förderrat oder mit Lehrer*innen disku­tieren können.

Auf lange Sicht würde sich eine effek­ti­vere und größere Inves­ti­tion des Staates in Kinder, zum Beispiel durch die Auswei­tung des Start­chancen-Programms auf mehr Kinder nicht nur sozial- oder bildungs­po­li­tisch, sondern auch aus ökono­mi­scher und fiska­li­scher Sicht“, also gesamt­ge­sell­schaft­lich auszahlen. Zu diesem Schluss kommt ein Gutachten des Insti­tuts der deut­schen Wirt­schaft, im Auftrag des Deut­schen Komi­tees für UNICEF.

Spätes­tens die Corona-Krise hat gezeigt, wie unge­recht die Bildungs­chancen sind: Ressourcen für elek­tri­sche Ausstat­tung, wie Tablets, stabiles Internet sowie eine fried­liche Lernat­mo­sphäre und helfende Eltern zu Hause beein­flussen die mentale Gesund­heit und den Lern­erfolg maßgeb­lich, doch sind sie keine Selbst­ver­ständ­lich­keit. Insbe­son­dere nicht in Brenn­punkt­vier­teln, wo sich verschlech­ternde Lebens­zu­stände zuneh­mend norma­li­siert und geduldet werden. Abzu­warten bleibt, ob bei der Bundes­tags­wahl im Februar die Frage der Förde­rung und Sicher­heit von Kindern eine Rolle spielen wird. Mehr­fach diskri­mi­nierte Kinder und Jugend­liche sollten nicht vergessen werden.

Melina studiert inzwi­schen in England an der Univer­sity of Cambridge Poli­tik­wis­sen­schaften. Sie denkt noch ab und zu an ihre Grund­schul­zeit zurück: Viele meiner dama­ligen Mitschüler haben nicht zu träumen gewagt, eines Tages wegzu­ziehen oder zu studieren, weil wir niemanden kannten, der das gemacht hat.“ Die junge Frau nippt an ihrem Tee. Aber einige meiner Freunde wollten und wollen Ärztinnen oder Lehrer werden; sie haben nur nicht die nötigen Ressourcen bekommen, um ihr Viertel zu verlassen.“ Die 18-Jährige wünscht sich eine Gerech­tig­keit für die nächste Gene­ra­tion von Kindern, sodass jeder und jede seine und ihre Träume errei­chen kann.


Dieser Artikel ist im Rahmen der offenen Redak­tion entstanden. Bei Fragen, Anre­gungen, Kritik und wenn ihr selbst mitma­chen mögt, schreibt uns eine Mail an redaktion@​jugendpresse.​de 


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