Anti­ka­pi­ta­lismus statt Krawall – Kann es ethi­sches Reality-TV geben?

Datum
12. Juni 2024
Autor*in
Niklas Schweitzer
Themen
#Leben #Reality-TV
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Rassis­ti­sche Entglei­sungen, toxi­sche Bezie­hungen, Mobbing: Reality-Formate von Sommer­haus der Stars“ bis Promi­nent getrennt“ setzen zuneh­mend auf immer neue Eska­la­ti­ons­stufen, um die Sendungen inter­es­sant zu halten. Geht das nicht auch anders? Ein Erkun­dungs­ver­such.

Bewege deine Fresse aus der Kamera!“ schreit Desirée Nick Claudia Obert an und stößt sie unge­stüm von sich weg. Reality-TV-Liebhaber*innen dürfte der kult­hafte Streit der zwei Diven in der Sendung Promis unter Palmen“ wohl­be­kannt sein. Was als heftiger, doch unter­halt­samer Streit zwischen zwei eini­ger­maßen Eben­bür­tigen begann, entwi­ckelte sich in den weiteren Folgen der Sendung sehr schnell zu einer häss­li­chen Form des Mobbings und endete damit, dass Obert weinend auf dem Boden der Promi-Villa lag und das Format schließ­lich verließ. Die Grenze des gerade noch Sag‑, Seh- und Ertrag­baren, sie verschiebt sich zuneh­mend im Reality-TV.

Rassis­ti­sche und sexis­ti­sche Diskri­mi­nie­rungen, die unkom­men­tierte Darstel­lung toxi­scher Bezie­hungs­mo­delle oder Mobbing sind dabei weder Einzel­fälle noch Zufall. 2020 analy­siert Claudia Krämer von der RWTH Aachen in ihrer Disser­ta­tion die Achtung der Menschen­würde im Reality-TV und stellt dabei fest, dass sich in den Formaten seit mehreren Jahren eine Tendenz zu immer massi­veren Grenz­über­schrei­tungen“ beob­achten lässt, von denen jede immer einen neuen, zwei­fel­haften Stan­dard setze: Wer beispiels­weise dachte, bei Promis unter Palmen“ könne es nicht noch menschen­ver­ach­tender werden, dem wurde direkt in der ersten Folge der zweiten Staffel eindrück­lich das Gegen­teil bewiesen, als Kandidat Prinz Marcus von Anhalt durch ekel­haf­teste homo­phobe Belei­di­gungen gegen­über Drag­Queen Katy Bähm auffällig wurde.

Als leiden­schaft­li­cher Zuschauer von Reality-Formaten frage ich mich: Muss das sein? Geht es nicht auch anders, irgendwie harmo­ni­scher, unpro­ble­ma­ti­scher und posi­tiver?

Reality-TV repro­du­ziert kapi­ta­lis­ti­sche Erfolgs­lo­giken

Wie die Utopie eines unpro­ble­ma­ti­schen Reality-TV aussehen könnte, versucht Akti­vistin und Schau­spie­lerin Monika Frein­berger im Produk­ti­ons­team des Kunst­pro­jekts TVWOW zu ergründen. In Too Bougie To Handle“ werden hier beispiels­weise analog zur Netflix-Show Too Hot To Handle“ Logiken umge­dreht, wie sie sagt. Während in dem Original vermeint­lich bindungs­un­fä­hige, sexwü­tige Singles durch die strenge KI Lana“ Enthalt­sam­keit und wahre Liebe kennen­lernen sollen, so sollen die Darsteller*innen in dem fiktiven TVWow-Format in einer post­ka­pi­ta­lis­ti­schen Welt durch richtig guten Sex“ lernen, ihre alten neoli­be­ralen Denk­muster von Lästerei und Konkur­renz aufzu­geben. Anti­ka­pi­ta­lis­ti­sche Erzie­hung im SM-Studio quasi.

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Antikapitalismus als Reality-Show?  In " Too Bougie To Handle" sollen die fiktiven Kandidat*innen Rosa (Herman Nyby) und Mercedes (Monika Freinberger) lernen, ihre neoliberalen Denkmuster abzulegen. Bild: TVWOW

Denn Frein­ber­gers Kritik an Reality-Formaten ist eine sehr funda­men­tale. Die Shows repro­du­zierten kapi­ta­lis­ti­sche Erfolgs­lo­giken, nach denen sich immer nur eine*r durch­setzen kann, was zu rück­sichtslos konkur­rie­renden statt soli­da­risch agie­renden Kandidat*innen führe: Als Zuschauer lerne ich, dass alle Frauen zickig sind und sich gegen­seitig hassen müssen. Ich lerne, dass es das Größte für mich ist, irgend­wel­chen Typen hinter­her­zu­rennen. Ich muss besser sein als die anderen, um zu gewinnen.“ Wer die Shows ändern wolle, müsse das System, in denen sie produ­ziert werden, ändern.

TVWOW“ soll dabei als eine Art Spiel­wiese dienen für Ideen, wie es sein könnte: Wir wollten das Fern­sehen produ­zieren, was wir uns selbst am meisten wünschen würden.“ Ohne Diskri­mi­nie­rung, mit viel Queer­ness, Unter­hal­tung ohne schlechtes Gewissen – einfach mal ein biss­chen in der Utopie rumspinnen.

Aber funk­tio­niert das? Lebt Reality-TV nicht davon, auch mal bewusst unkor­rekt zu sein, zu provo­zieren?

Braucht es die Klischees, die Provo­ka­tion, die Eska­la­tion?

Ramón Wagner, YouTube-Kommen­tator von und Casting-Agent für diverse Reality-Formate, meint ja, das brauche es: Die Wahr­heit ist halt auch, dass Lange­weile niemand sehen will.“

Eine klare Grenze zieht er bei eindeutig diskri­mi­nie­rendem Verhalten und Hand­greif­lich­keiten. Bei Promis wie Prinz Marcus wisse man genau, wen man sich einlade und welche Art der Unter­hal­tung“ man zu erwarten habe. Grenz­über­schrei­tungen somit bewusst zu kalku­lieren und sich anschlie­ßend als Sender halb­herzig zu entschul­digen, das hält auch er für schein­heilig. Stei­gender öffent­li­cher Druck über beispiels­weise Social Media sorgt jedoch maßgeb­lich dafür, dass die Sender es sich immer weniger leisten können, solche Vorfälle kommen­tarlos geschehen zu lassen. So berichtet Wagner, dass diskri­mi­nie­rende Ausfälle auch zuneh­mend in Verträgen der Shows aktiv verboten würden, was immer öfter dazu führe, dass Kandidat*innen konse­quent von Shows ausge­schlossen werden (wie zum Beispiel Kandi­datin Janina Yous­se­fian nach einem rassis­ti­schen Kommentar im Dschun­gel­camp) und Über­griffe anschlie­ßend kritisch einge­ordnet werden. Das zeigt auch, dass es sich als Zuschauer*innen lohnt, den Sendungen gegen­über kritisch zu bleiben und Verän­de­rung einzu­for­dern.

Doch ein gene­relles Auskommen ohne Klischees oder stereo­ty­pi­sche Rollen­bilder hält Wagner für unwahr­schein­lich: Reality-Shows sollen keine Vorbild­funk­tion haben, das ist nicht das Ziel der Sendungen und wenn es das Ziel werden sollte, dann wird es kein Reality mehr geben, weil die Leute es sich dann nicht mehr anschauen. Man guckt sich ja genau diese krassen Sendungen an, um sich vom Alltag abzu­lenken und sich in eine Welt zu beamen, in der man merkt, dass das eigene Leben eigent­lich doch besser ist.“

Lästern als zusam­men­schwei­ßendes Element

Damit liegt Wagner nicht ganz falsch. Forschungen zum Thema wie eine Studie zur Rezep­ti­ons­wir­kung der Sendungen von unter anderem der Medi­en­wis­sen­schaft­lerin Dr. Laura Sūna zeigen, dass uns an den Shows vor allem ihre gemein­schafts­stär­kende Funk­tion reizt. Wir tauschen uns beson­ders gerne mit anderen über die geschauten Shows aus, lästern und erheben uns gemeinsam über die darge­stellten Kandidat*innen und können uns so unserer eigenen Grup­pen­grenzen verge­wis­sern – sie nennt das soziale Distink­tion: Was ist noch okay, was empfinden wir als pein­lich, dumm oder grenz­über­schrei­tend? Wie wollen wir selbst nicht sein im Gegen­satz zu den Kandidat*innen?

Durch klischee­hafte Darstel­lungen der Kandidat*innen kommen wir dann auch zu verall­ge­mei­nernden Bewer­tungen dieser Personen und der Gruppen, für die sie stehen: Die Schwarze! […] Die hat die ganze Zeit immer richtig rumge­jam­mert.“, meint eine der in der Studie befragten Zuschauer*innen. Sūna beschreibt den Einfluss von Klischees und proble­ma­ti­schen Rollen­bil­dern im Reality-TV als zirku­lären Prozess: Als Zuschauer*in eigne man sich Wissen aus diesen Sendungen an und gebe dieses zum Beispiel auf dem Schulhof weiter. Viel­leicht brau­chen wir also gar nicht zwin­gend den schrul­ligen Schwulen oder die streit­süch­tige, blonde Zicke um uns von Reality-TV unter­halten zu fühlen. Viel­leicht sind wir durch die spezi­fi­sche Machart der Sendungen bewusst darauf trai­niert, solche Darstel­lungen als Unter­hal­tung zu empfinden.

Iden­ti­fi­ka­tion statt Distink­tion? Mitfühlen statt Fremd­schämen?

Was uns zurück zur Frage führt, ob es auch anders geht: Iden­ti­fi­ka­tion statt Distink­tion. Mitfühlen mit emotio­nalen Geschichten der Kandidat*innen statt Fremd­schämen für deren von den Produk­tionen teils bewusst provo­ziertes pein­li­ches Verhalten. Formate wie Prince oder Prin­cess Char­ming“ zeigen einen neuen Ansatz: Unter­hal­tung durch die Reprä­sen­ta­tion von span­nenden Charak­teren und (queeren) Lebens­formen, die sonst im Fern­sehen eher nicht vorkommen. Ganz ohne Klischees und aufge­bauschtes Drama geht es auch hier noch nicht, aber es ist ein Anfang. Es muss nicht gleich system­kri­ti­sches Bildungs­fern­sehen sein.

Wie Unter­hal­tung ohne Eska­la­tion gelingen kann? Gute psycho­lo­gi­sche Betreuung am Set, Disclaimer zu darge­stellten Stereo­typen und kriti­sche Einord­nungen zu Über­griffen könnten die Shows schon ein biss­chen weniger menschen­ver­ach­tend gestalten. Ob das dann lang­wei­liger ist, weil korrekter? Selbst Ramón Wagner findet: Natür­lich braucht es Reibungs­punkte. Aber Reibungs­punkte können ja auch hitzige Diskus­sionen auf Augen­höhe sein, ohne Belei­di­gungen oder körper­liche Über­griffe.“

Warum Akti­vistin Monika Frein­berger trotz ihrer harschen Kritik dem Reality-TV treu bleibt? Ich schaue mir die Leute einfach gerne an, ich finde sie lustig und sympa­thisch. Daraus kann man oft auch tolle Gesell­schafts­ana­lysen ableiten.“ Und viel­leicht liegt genau hier das Poten­zial für künf­tige Shows. Wirk­lich viel­fäl­tige, inter­es­sante Protagonist*innen, die etwas zu erzählen haben und mit mehr unter­halten können als Belei­di­gung, Hass und Diskri­mi­nie­rung. Man wird wohl noch träumen dürfen.


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